„Wir müssen aus unseren Bubbles raus“

von Redaktion

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sieht in der von ihm vorgeschlagenen „Pflichtzeit“ eine Chance, die wachsende soziale Distanz in der deutschen Gesellschaft zu überbrücken. Sorge, dass sein Vorstoß im Sand verlaufen könnte, hat er nicht. Im Interview bekräftigt er seinen Vorstoß.

Herr Bundespräsident, Ihr Vorstoß für eine Pflichtzeit ist umgehend auf Ablehnung gestoßen – auch in der Bundesregierung. Waren Sie enttäuscht über die teils brüske Zurückweisung?

In einer Demokratie müssen nicht alle einer Meinung sein. Im Gegenteil, Demokratie lebt davon, dass wir Ideen und Argumente austauschen. Ich habe die Debatte so wahrgenommen, dass nach einigen spontanen Reaktionen ein erfreulich differenziertes Abwägen von Argumenten begonnen hat. Mich haben in den letzten Wochen viele Zuschriften erreicht. Manche skeptisch, manche zustimmend. Besonders freut mich, dass sich auch ganz junge Menschen zu Wort gemeldet haben. Sie sind nicht alle einverstanden, aber bereit zu diskutieren. Viele von ihnen treten stark für eine Erweiterung der Möglichkeiten einer freiwilligen Dienstzeit ein.

Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, man wolle Sie bewusst falsch verstehen.

Es ist ja oft so, dass Debatten auch leidenschaftlich oder hitzig geführt werden. Um den kühlen Kopf zu bewahren, betone ich gerne noch einmal, dass ich bewusst von einer sozialen Pflichtzeit gesprochen habe. Es muss eben kein Jahr sein, das Männer und Frauen leisten könnten für die Gesellschaft, es können auch ein paar Monate sein. Vielleicht kann man sie auch flexibel auf bestimmte Lebensabschnitte verteilen. Was mir auch wichtig ist: Die Pflichtzeit soll nicht von vornherein auf bestimmte Altersgruppen beschränkt sein. Oder auf bestimmte Einrichtungen. Womöglich könnte man eine Pflichtzeit nicht nur in sozialen Einrichtungen absolvieren, sondern auch bei der Feuerwehr, beim THW, beim Katastrophenschutz oder bei der Bundeswehr. Die denkbaren Möglichkeiten sind fast unendlich.

Ein zentrales Argument der Gegner ist: Junge Menschen mussten schon in der Pandemie so viel mitmachen, man kann ihnen jetzt nicht noch mehr zumuten und sie zwingen, ein Jahr oder ein paar Monate ihres Lebens herzugeben. Was halten Sie von diesem Argument?

Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen überwiegend in ihrer sozialen Bubble aufwachsen und bleiben, erst in der Schule, dann bei der Ausbildung oder im Studium. Auch im Beruf setzt sich die Distanz oftmals fort. Über die sozialen Medien, die wir so intensiv nutzen wie nie zuvor, laufen wir Gefahr, nur noch mit Gleichgesinnten und an gleichen Themen Interessierten zu kommunizieren. Die Jahre der Pandemie haben die Tendenzen noch verstärkt. Meine Sorge ist, dass durch die soziale Distanz auch die Vorurteile wachsen – zwischen Jung und Alt, zwischen Arm und Reich, zwischen den hier Geborenen und den Eingewanderten, zwischen Religionen und Kulturen. Deshalb wünsche ich mir, dass wir Möglichkeiten finden, um uns wieder über die unterschiedlichen Grenzen hinweg begegnen zu können.

Könnte es eine Alternative sein, bei der Freiwilligkeit zu bleiben, aber die Anreize für einen freiwilligen Dienst zu erhöhen – etwa über die Anerkennung von Rentenpunkten?

Wir führen die Debatte über den Dienst an der Gesellschaft nicht zum ersten Mal. Und ich freue mich sehr, dass es so viele Freiwillige gibt, die sich engagieren. Eine Frage ist aber, wie wir die erreichen, die sich aus den verschiedensten Gründen nicht engagieren wollen oder können, die in ihren Milieus verbleiben. Unsere Gesellschaft aber lebt doch davon, dass sich die vielen Bubbles – soziale, politische, kulturelle – vermischen können. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen, dass es dafür einen Anstoß braucht, und das könnte die soziale Pflichtzeit sein, bei der alle mitmachen.

Interview: Ulrich Steinkohl

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