Suizid einer Ärztin entfacht Debatte um Hass im Netz

von Redaktion

Österreicherin war als Impf-Befürworterin ins Visier von Corona-Leugnern geraten – Ließ Polizei das Opfer im Stich?

Wien – Bei manchen Menschen fließen Tränen. Die allermeisten halten still ihr leuchtendes Smartphone oder eine Kerze in die Höhe. Die Betroffenheit der Menge ist greifbar. Einige tausend Menschen versammelten sich am Montagabend für das Lichtermeer vor dem Wiener Stephansdom, um der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr zu gedenken. Die Medizinerin aus Seewalchen am Attersee in Österreich hatte sich im Kampf gegen Corona engagiert und war im Internet zum Hass-Objekt der Impfgegner geworden. Daran – das legen von Medien veröffentlichte Abschiedsbriefe nahe – ist sie zerbrochen.

Der Suizid der 36-Jährigen vor wenigen Tagen hat die Debatte über Hass im Netz neu angefacht. Kein Geringerer als Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen nahm das Drama zum Anlass einer Mahnung. „Beenden wir dieses Einschüchtern und Angst machen“, schrieb das Staatsoberhaupt auf Twitter. Er selbst legte mit seiner Frau am Montagabend Blumen vor der Praxis der Toten nieder.

Trotz der inzwischen etablierten gesetzlichen Regelungen gegen Hass im Netz auf nationaler und EU-Ebene ist nach Erfahrungen von Experten die Online-Aggression noch nicht annähernd im Griff. Die auf das Gebiet spezialisierte Beratungsstelle „Zara“ in Wien hat in den vergangenen fünf Jahren 8000 Fälle registriert. Zeitweise sei Corona bei den Hass-Postings das Hauptthema gewesen, sagt Sprecher Ramazan Yildiz über die tiefe gesellschaftliche Kluft angesichts der Pandemie. Zumindest punktuell stellten die „Zara“-Mitarbeiter einen Unterschied beim Ermittlungseifer der Behörden fest. „Natürlich ist es immer mal wieder so, dass man bei Online-Delikten andere Reaktionen bekommt als bei Offline-Delikten“, sagt Yildiz.

Aber auch für die Betroffenen sei ungeachtet der gesetzlichen Fortschritte das Verfolgen ihrer Verfolger oft mühsam. „Vielen ist es zu emotional, finanziell und zeitlich zu aufwendig“, so Yildiz weiter. Im Fall Kellermayr läuft nach Angaben der Staatsanwaltschaft Wels weiterhin ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannt. Geprüft wird derzeit, ob der Suizid etwas an den Zuständigkeiten ändert. Aufgrund von Höchstgerichtsurteilen sind im Fall von gefährlichen Drohungen die Behörden im Herkunftsort der Täter zuständig. Einer von ihnen soll in Oberbayern sitzen. „Es gibt ein Ermittlungsverfahren gegen eine männliche Person aus Oberbayern bei uns“, bestätigte gestern ein Sprecher der Staatsanwaltschaft München II.

Die Polizei wehrt sich gegen Vorwürfe, sie habe zu lax auf die Drohbriefe reagiert. Seit November 2021 sei die Ärztin polizeilich beraten worden, heißt es. Es sei danach „zu zahlreichen weiteren Kontaktaufnahmen“ gekommen. Die polizeilichen Schutzmaßnahmen seien „drastisch erhöht“ worden. Bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft in Wien ist jetzt eine Anzeige eingegangen, in der den Behörden Untätigkeit vorgeworfen wird. Kellermayr hatte sich selbst über Monate aus eigener Tasche Sicherheit erkauft. Für entsprechende Vorkehrungen habe sie rund 100 000 Euro bezahlt. Trotzdem musste sie ihre Praxis schließen. MATTHIAS RÖDER

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