Tod auf einem Balkon in Kabul

von Redaktion

VON FRIEDEMANN DIEDERICHS

Washington – Als Joe Biden am Montagabend acht Minuten lang zur besten Sendezeit vor die Fernsehkameras tritt, hebt er mahnend den Zeigefinger. „Es wurde Gerechtigkeit ausgeübt. Den Terroristen gibt es nicht mehr“, sagt der noch an Corona und unter schlechten Umfragewerten leidende US-Präsident. Mit der Liquidierung des seit 25 Jahren gesuchten Al-Kaida-Vordenkers Aiman Al-Zawahiri hat der Demokrat nun jedoch – vier Monate vor den wichtigen Kongresswahlen – einen großen sicherheitspolitischen Erfolg errungen.

Der Präsident berichtet in seiner kurzen Ansprache, wie die Tötung ablief: Früher in diesem Jahr sei Al-Zawahiri in Kabul von Geheimdienst-Quellen gesichtet worden. Der Präsident hatte dann für vergangenen Samstag einen „Präzisionsschlag“ angeordnet, mit dem auch zivile Verluste beschränkt werden sollten. Es habe unter den Angehörigen des Gesuchten und anderen Zivilisten keine Toten gegeben, obwohl Al-Zawahiri und seine Familie zusammen in einem Haus unter einem Dach wohnten.

Aus Geheimdienstkreisen wurden weitere Details bekannt: Al-Zawahiri sei – als er allein auf einem Balkon des Gebäudes stand – von zwei „Hellfire“-Raketen ausgeschaltet worden. Diese wurden von einer aus dem Ausland ferngesteuerten unbemannten CIA-Drohne abgefeuert. Offenbar gibt es dabei keine Explosion, vielmehr werden im Moment des Einschlags sechs messerartigen Klingen freigesetzt, die die Zielperson töten. Bei einer Lagebesprechung soll Biden zuvor sorgfältig ein verkleinertes Modell des Hauses studiert und sich vergewissert haben, dass Kollateralschäden begrenzt sein würden. Damit setzte der US-Präsident einen starken Kontrapunkt zu den Aktivitäten der Terrorgruppe, die in erster Linie auch bei ihren Anschlägen in Europa stets Zivilisten ins Visier genommen und maximale Totenzahlen angestrebt hatte.

Eine ähnliche Planung mit einem als Modell nachgebauten Haus hatte es vor elf Jahren gegeben, als Osama bin Laden unter der Regie von Ex-Präsident Barack Obama in seinem Versteck in Pakistan liquidiert wurde. Diesmal wurde allerdings kein Einsatz eines Hubschrauber-Sonderkommandos der „Navy Seals“ notwendig. Pikant ist, dass damals Biden als Obamas Stellvertreter dem Präsidenten explizit von der am Ende so erfolgreichen Aktion abgeraten hatte.

Die Erkenntnisse über den Aufenthalt von Al-Zawahiri gewannen die USA vermutlich durch Spionagedrohnen, Satelliten, das Abhören von Handys und durch bezahlte einheimische Mitarbeiter am Boden in Kabul. Auf den Kopf von Al-Zawahiri waren zuletzt 25 Millionen US-Dollar Belohnung ausgesetzt gewesen. Unklar war gestern noch, ob sich ein Hinweisgeber diese Summe gesichert hatte.

Gleichzeitig wurde durch die Tötung von Al-Zawahiri deutlich, dass die Taliban gegen das sogenannte „Doha“-Abkommen verstoßen haben. In diesem Vertrag hatten sie sich gegenüber dem Westen mit Blick auf den Truppenabzug verpflichtet, nie wieder Al-Kaida-Terroristen Schutz zu bieten. Wie jetzt berichtet wird, hätten die Taliban unmittelbar nach dem Drohnenangriff den Zugang zu dem Gebäude beschränkt, die Familie des Getöteten an einen geheimen Ort gebracht und auch die Überreste des Terroristen sichergestellt. Das Haus, in dem sich Al-Zawahiri aufgehalten hatte, gehört einem Bericht des Senders CNN zufolge zudem Angehörigen des derzeitigen Taliban-Innenministers. In Washington hieß es, dass auch diese Fakten eine anhaltende enge Kooperation zwischen den Taliban und Al Kaida beweisen würden.

Man werde Afghanistan nie wieder erlauben, zu einem sicheren Hafen für Terroristen zu werden, betonte Biden mit Blick auf diese Details. Im August 2021 hatte er den US-Abzug aus Afghanistan noch mit den Worten begründet, Al Kaida-Terroristen gebe es dort nicht mehr – mit Blick auf Al-Zawahiri ein massiver Irrtum. Wer eine Gefahr für die Bürger sei, den werde man finden, so der Präsident. Und: „Wir werden nie aufgeben.“ Am Ende der Ansprache erinnerte Biden nochmals an die Opfer der Terrorattacken vom 11. September – und sprach mehrfach den Satz: „No day shall erase them from the memory of time“ – „Kein Tag soll sie von der Erinnerung der Zeit ausradieren.“ Es sind einst vom römischen Poeten Virgil formulierte Worte, die auch in das Ground-Zero-Mahnmal in New York eingemeißelt sind.

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