München – Eines ist klar: Olaf Scholz wäre das so nicht passiert. Ein Handyvideo vom deutschen Bundeskanzler, wie er ausgelassen und vielleicht auch ein kleines bisschen lasziv auf einer Privatparty tanzt – ähm, nein, nicht vorstellbar. Doch Sanna Marin ist eben so gar nicht wie Olaf Scholz. Sie ist 36, feiert Partys, besucht Rockfestivals und dokumentiert das alles auch auf ihrem Instagramkanal mit 865 000 Followern. Ach ja, und sie führt die Regierung des künftigen Nato-Staats Finnland.
Diese unkonventionelle Mischung hat ihr bisher nicht geschadet, im Gegenteil. Umfragen zufolge ist Marin die beliebteste Politikerin des Landes. Als die „Bild“ sie sogar die „coolste Politikerin der Welt“ nannte, zitierten finnische Medien stolz das deutsche Boulevardblatt. Doch nicht alle im Land heißen es gut, wie sich die Ministerpräsidentin in der Öffentlichkeit inszeniert. Mit ihren Auftritten lasse sie die nötige Ernsthaftigkeit vermissen, bemängeln Kritiker. Und nun hat sie den Bogen in den Augen einiger endgültig überspannt.
Dabei war es diesmal nicht Marin selbst, die das Video, das sie beim Feiern mit Freunden zeigt, in die Öffentlichkeit gespült hat. Es wurde stattdessen einer finnischen Zeitung zugespielt und war ziemlich sicher nicht zur Verbreitung bestimmt. Zum größeren Problem als die Bilder wurden für die Politikerin aber ohnehin die in der Aufnahme hörbaren Äußerungen anderer Partygäste, die in den Augen einiger Finnen als Anspielungen auf Drogenkonsum verstanden werden können. Da Marin zu diesem Zeitpunkt im Dienst war und keinen Stellvertreter benannt hatte, wurde es an diesem Punkt tatsächlich heikel. Denn eine Regierungschefin, die möglicherweise unter Drogeneinfluss steht – darin erkannte nicht nur die finnische Opposition ein Sicherheitsproblem.
Marin wies diesen Verdacht weit von sich. An dem besagten Wochenende seien keine Regierungstermine angesetzt gewesen. Sie habe zwar an dem Abend etwas Alkohol getrunken, aber in ihrem Leben noch nie illegale Drogen genommen. „Ich bin immer bereit zu arbeiten“, sagte sie. Um das zu beweisen, unterszog sie sich sogar einem Drogentest. Das Ergebnis fiel gestern negativ aus.
2019 wurde Marin finnische Ministerpräsidentin – und damit die jüngste Regierungschefin der Welt. Nach dem Rücktritt von Antti Rinne, in dessen Kabinett Marin Verkehrsministerin war, hatte sie sich mit einer Kampfabstimmung in ihrer Partei die Nachfolge gesichert.
„Finnland muss unverzüglich eine Nato-Mitgliedschaft beantragen“, stellte Marin im Mai fest. Es dürfte ihr international bisher meistbeachtetes Statement sein. Bevor der Krieg in der Ukraine als politisches Thema in Russlands Nachbarland fast alles überlagerte, trat die für klare und humorlose Ansagen bekannte Sozialdemokratin vor allem für den Kampf gegen den Klimawandel und eine Stärkung des Wohlfahrtsstaats ein.
Auch sie selbst stammt nicht aus wohlhabenden Verhältnissen – wuchs mit einer alleinerziehenden Mutter und deren Partnerin auf. Ihr Vater soll Alkoholiker gewesen sein. Sie selbst war das erste Mitglied der Familie, das eine Universität besuchte. Heute ist Marin mit einem ehemaligen finnischen Fußballer verheiratet und Mutter einer kleinen Tochter.
Ihr Tanzvideo bringt Marin aber nicht nur Kritik, sondern auch Solidarität ein. Unter dem Hashtag #solidaritywithsanna posten immer mehr Frauen in Finnland nun Videos, die sie selbst beim Tanzen und Feiern zeigen. Auch die deutsche Grünen-Politikerin Hannah Neumann veröffentlichte daraufhin ein vier Jahre altes Tanzvideo, auf dem auch die heutige Außenministerin Annalena Baerbock zu sehen ist. SEBASTIAN HORSCH