Blutiges Patt

von Redaktion

Der Krieg in der Ukraine ist festgefahren, vor allem die Russen beklagen Verluste

Berlin/Moskau/Kiew – Das Kalkül ging nicht auf, ganz im Gegenteil. Als Wladimir Putin am 24. Februar seine Panzertruppen in die Ukraine rollen ließ, rechnete er wohl mit einem kurzen Einsatz. Ein paar schmutzige Tage, dann würde Kiew fallen. Es kam anders. Inzwischen dauert der Krieg, der in Russland bis heute nicht so heißen darf, sechs Monate. Die Lage gleicht einem blutigen Patt – an ein nahes Ende glauben wenige.

Die russischen Einheiten kommen seit Wochen kaum voran. Ihnen fehlen nach Einschätzung von Militärexperten die Ressourcen, um große Offensiven durchführen zu können. Das betrifft sowohl das – offenbar oft veraltete – Kampfgerät, als auch die Mannstärke. Schätzungen von rund 70 000 gefallenen Soldaten seien realistisch, sagte der Sicherheitsexperte Carlo Masala von der Münchner Bundeswehr-Uni unlängst dem „Focus“. „Das ist eine Armee, ich sag’ es mal übertrieben, die pfeift, was ihre Kampffähigkeit anbelangt, aus dem letzten Loch.“ Allerdings hat auch die ukrainische Armee schwere Verluste erlitten.

Die Führung in Kiew setzt umso mehr auf starke Rhetorik. „Wir haben die russische Armee aus den nördlichen Gebieten verjagt. Wir haben die Besatzer von unserer Schlangeninsel vertrieben. Sie spüren bereits, dass es Zeit ist, aus Cherson und überhaupt aus dem Süden unseres Staates zu verschwinden“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj Mitte August. Gestern versprach er eine Rück-eroberung der seit 2014 annektierten Krim. Auch er muss aber eingestehen, dass 20 Prozent des Staatsgebiets nicht mehr unter Kontrolle Kiews stehen. Und auch der Kreml bleibt rhetorisch siegessicher. Alles laufe nach Plan, heißt es unentwegt.

Wie genau der aussieht, bleibt unklar. Putin spricht immer wieder von der Befreiung des Donbass im Osten der Ukraine, den die Russen offenbar zu rund 60 Prozent erobert haben. Nach einer Analyse des Experten Andrej Perzew liegt die ganze Operation deutlich hinter Zeitplan. Moskau schätze die Lage immer wieder falsch ein. „Im Kreml hoffen sie, dass die russischen Streitkräfte bis Dezember/Januar das Donezker Gebiet doch noch komplett einnehmen, ohne dabei die Kontrolle über die schon okkupierten Territorien zu verlieren“, schrieb Perzew für das Internetportal Meduza.

Russische Abgeordnete und Militärs betonen zwar, dass der Süden abgetrennt werden solle, also auch die Hafenstadt Odessa. Dadurch verlöre die Ukraine den Zugang zum Schwarzen Meer. Der Kreml bestätigt das aber nicht. Selbst vielen Russen ist klar, dass nichts läuft, wie es sollte. Der Kreml wirbt sogar in Gefängnissen mit hohen Gehältern um neue Soldaten, allerdings erfolglos.

Auch der britische Auslandsgeheimdienst MI6 mutmaßte kürzlich, den Russen gehe so langsam die Puste aus. Seit Kriegsbeginn zeigt sich der sonst verschlossene Dienst bewusst transparent, um Angaben aus Moskau zu kontern. Die britischen Erkenntnisse haben sich oft bestätigt, auch in deutschen Sicherheitskreisen hält man sie allgemein für zuverlässig, sieht aber auch Potenzial für russische Vormärsche.

Die Kampfhandlungen seien in einer Sackgasse, aber ein Einfrieren des Konflikts würde keiner der Seiten nützen, analysierte das Portal Meduza. Eher werde der Einsatz erhöht. Putin hatte zuletzt geprahlt, Russland habe nicht mal richtig losgelegt. Das ließ die Vermutung aufkommen, er plane die Generalmobilmachung – und damit ganz offiziell einen Krieg.  dpa/mmä

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