Wie der Krieg die Welt verändert

von Redaktion

VON D. GÖTTLER, M. MÄCKLER, M. BEYER UND R. HABTEMARIAM

München – Vor sechs Monaten griff Russland die Ukraine an. Die Folge: Tausende Tote, eine Flüchtlingswelle in Europa – und die Weltpolitik sortiert sich neu. Welche Allianzen sind entstanden? Was bringen die Sanktionen? Und wie steht es um die deutschen Waffenlieferungen? Eine Bilanz.

Sanktionen

Ölembargo, fast kompletter Ausschluss aus dem „Swift“-Zahlungssystem, Einfuhrverbot westlicher Hochtechnologie nach Russland und Strafmaßnahmen gegen mehr als 1000 Einzelpersonen. Die mit den USA abgestimmten EU-Sanktionen gegen Moskau sind hart und treffen auch uns in Europa. Umso mehr fragen sich: Was bringen sie?

„Sanktionen sind nicht wie ein Schalter, den man an und aus stellt“, sagt Christian von Soest, der beim Hamburger GIGA-Institut zu dem Thema forscht. Effekte zeigten sich erst mittel- bis langfristig. Und doch: Von Februar bis Juni schrumpfte die russische Wirtschaft um 6,5 Prozent. „Dieses Jahr ist mit einem weiteren Einbruch zu rechnen“, sagt von Soest. „Die russische Regierung sieht, dass die Talfahrt eingesetzt hat.“

So sieht es auch eine Studie der Yale-Universität von Anfang August. Darin heißt es, die Sanktionen hätten die „russische Wirtschaft auf allen Ebenen gründlich lahmgelegt“. Die Verkaufszahlen der russischen Autoindustrie etwa seien von monatlich 100 000 auf 27 000 gefallen. Wegen fehlender Teile aus dem Westen würden Autos ohne Airbags oder Automatik-Getriebe produziert. Ähnlich ist es in der Flugbranche. Weil Ersatzteile für Passagiermaschinen fehlen, werden andere Maschinen ausgeschlachtet. Besonders hart trifft Russland das Einfuhrverbot für westliche Hochtechnologie. Die sei kurzfristig nicht ersetzbar, sagt von Soest. Mikrochips fehlten unter anderem in der Waffenindustrie, etwa bei der Herstellung von Präzisionsmunition für den Krieg.

Russland werde künftig ärmer sein, dem Land drohe ein technologischer Rückstand. Einen Staatsbankrott hält von Soest derzeit aber für unwahrscheinlich. Auch die Finanzierung des Krieges sei noch nicht in Gefahr. Noch fließt unser Gas-Geld, die russischen Reserven (zu Kriegsbeginn auf über 600 Milliarden Dollar geschätzt, wobei die Hälfte eingefroren ist) sind üppig. Die Sanktionen mögen einen Effekt haben, aber zum Kurswechsel bewegen sie den Kreml nicht. „Wir dürfen zumindest kurzfristig keine allzu großen Erwartungen haben“, sagt von Soest.

Neue Allianzen

Weil sich westliche Demokratien abgewandt haben, muss Russland neue Allianzen schmieden und bestehende vertiefen. Wie schwierig das ist, zeigt beispielhaft die sinkende Teilnehmerzahl des jährlichen Wirtschaftsforums in St. Petersburg. Wenig überraschend baut der Kreml stark auf die Achse Moskau–Peking. Von China gab es bisher kaum Kritik am Krieg, dafür baute das Riesenreich seine Rohstoffimporte kräftig aus. Aktuell allerdings entwickelt sich die Beziehung vor allem zum Vorteil der Chinesen, die die Preise für Öl und Gas drücken können in dem Wissen, dass Russland Abnehmer sucht.

Auch in der Gruppe der wichtigsten Schwellenländer (BRICS), der außerdem noch Brasilien, Indien und Südafrika angehören, wirbt Russland um Verbündete. Mit mäßigem Erfolg. Indien etwa weitete zwar seine Kohle- und Öl-Importe aus, pflegt aber auch den Kontakt zum Westen, nahm Handelsgespräche mit der EU wieder auf und folgte wie Südafrika der Einladung zum G7-Gipfel.

Enger sind die Bande Moskaus bezeichnenderweise zu Staaten, die sonst wenige Freunde haben. Nordkorea erkannte als einer der Ersten die Gebiete Luhansk und Donezk als souverän an. Eine der seltenen Auslandsreisen seit Kriegsbeginn führte Putin in den Iran. Dort traf er auch den türkischen Präsidenten Erdogan, der einerseits ein Nato-Land repräsentiert, anderseits schon Rüstungsdeals mit Moskau abgeschlossen hat und im Streit um Getreidelieferungen vermittelte. Seine Rolle ist wie so oft auch jetzt undurchsichtig.

Waffenlieferungen

Seit den ersten Kriegstagen sieht sich Bundeskanzler Olaf Scholz Vorwürfen ausgesetzt, bei der Unterstützung der Ukraine durch Waffen zu zögerlich vorzugehen. Mittlerweile hat die Bundesregierung eine wöchentliche Liste mit „militärischen Unterstützungsleistungen“ veröffentlicht. Die Liste reicht von den viel diskutierten 15 Flakpanzern vom Typ Gepard, zehn Panzerhaubitzen und 21,8 Millionen Schuss Handwaffenmunition bis zu zehn Tonnen AdBlue und zwei Kühlschränken für Sanitätsmaterial. Insgesamt wurden laut Bundesregierung bis Mitte August Genehmigungen für die Ausfuhr von Rüstungsgütern im Wert von knapp 700 Millionen Euro erteilt.

Am Dienstagabend ließ Scholz Lieferungen im Wert von weiteren 500 Millionen ankündigen: hochmoderne Flugabwehrsysteme, Raketenwerfer, Munition und Anti-Drohnen-Geräte, heuer und 2023. Ein Dutzend Bergepanzer und 20 auf Pick-ups montierte Raketenwerfer seien Teil des Pakets.

Zuvor waren auch aus der Ampel werden immer wieder Rufe nach mehr Engagement laut geworden. Dafür müsse man notfalls auch eine Schwächung der Bundeswehr in Kauf nehmen, argumentierten Bundestagsabgeordnete von Grünen, SPD und FDP jüngst in einem Appell an die Regierung.

Flucht und Rückkehr

Der russische Überfall hat eine Fluchtwelle in Europa ausgelöst. Laut UN-Flüchtlingswerk sind mehr als 6,3 Millionen Ukrainer aus ihrer Heimat geflohen. Deutschland hat nach Angaben des Innenministeriums 967 000 ukrainische Geflüchtete registriert, die meisten Frauen und Kinder. In Bayern waren im Juli 31 100 ukrainische Geflüchtete in staatlichen Unterkünften untergebracht. Das ist auch an Bayerns Schulen zu spüren: In der letzten Schulwoche vor den Ferien wurden dort 26 837 ukrainische Kinder und Jugendliche unterrichtet. Im kommenden Schuljahr könnten es laut Kultusministerium mehr als 30 000 Schüler werden.

Doch es mehren sich Berichte über Ukrainer, die trotz des Krieges wieder in ihre Heimat zurückkehren. Die UN haben seit Ende Februar knapp fünf Millionen Grenzübertritte zurück in die Ukraine gezählt. Wie viele Menschen davon aber dauerhaft in der Ukraine bleiben, ist nicht erfasst.

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