Sorge vor dem Wut-Winter

von Redaktion

VON MARCUS MÄCKLER

München – Eigentlich hatte er doch gute Nachrichten dabei. Beim Bürgerdialog in Neuruppin versprach Olaf Scholz den Zuhörern weitere Entlastungen. Es müsse noch mehr passieren, sagte der Kanzler – und verstand dabei kaum sein eigenes Wort. Etwa 300 Demonstranten brüllten über Scholz’ Sätze hinweg, ein paar Linke, die meisten AfD-Anhänger. Sie grölten „Lügner“, „Volksverräter“.

Der kleine Wutmoment – ein paar Tage her – war noch kein erschütterndes Ereignis. Aber eine Andeutung dessen, was Herbst und Winter bringen könnten: Der politische Rand will sich die Inflation und steigende Energiepreise zunutze machen, um gegen die Energiepolitik der Ampel-zu mobilisieren. Extreme Splittergruppen und Verschwörerkreise lauern. Linkspartei und AfD kündigen einen „Heißen Herbst“ an. Erste Montagsdemos sind schon für September geplant.

Gerade die AfD träumt von einem Mobilisierungspotenzial wie in der Flüchtlingskrise. Man wolle „Volkes Zorn“ auf die Straße bringen, sagte Parteichef Tino Chrupalla kürzlich – dazu will man bis in die Mitte der Gesellschaft greifen. Dass es dort ein gewisses Unverständnis für das Regierungshandeln gibt, deutet sich in Umfragen an. In einer RTL/ntv-Umfrage sagten 39 Prozent der Befragten, die Regierung solle die hoch umstrittene Pipeline Nord Stream 2 in Betrieb nehmen, um Gas-Engpässe zu vermeiden. Im Deutschlandtrend erklärte jeder Fünfte, die Sanktionen gingen zu weit. Das war Anfang August, frieren musste da noch niemand.

Grund genug, jene „Volksaufstände“ zu fürchten, vor denen Außenministerin Annalena Baerbock warnte?

Experten sehen zumindest eine heftige Protestwelle voraus. Der Chemnitzer Sozialforscher Piotr Kocyba sagte, Unruhen im Sinne von Barrikaden oder brennenden Autos sehe er nicht, wohl aber eine weitere Radikalisierung von Demonstranten, gerade im Osten. Auch der Politologe Hans Vorländer sagte dem „Spiegel“, das Eskalationspotenzial im Osten sei groß.

Linke und Rechte versuchen, die Menschen mit verschiedenen Strategien auf die Straße zu bringen. Die Linke sehe im Energiethema ein Problem sozialer Gerechtigkeit und versuche so, zusammen mit Gewerkschaften und Sozialverbänden zu mobilisieren, sagt Simon Teune, der im Vorstand des Instituts für Protest und Bewegungsforschung sitzt. Anders die Rechten: „Sie erklären die Energiekrise nicht als Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine, sondern als Bosheit sinistrer Eliten.“ Ihr Protest sei daher auch ein Angriff auf das demokratische System.

Dass rechts und links nebeneinander durch den Wut-Winter marschieren könnten, stößt zumindest einer Seite auf. Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow forderte, Abstand zu halten zu „Menschen, die die freiheitliche Gesellschaft ablehnen“. Parteichefin Janine Wissler betonte: „Das sind nicht unsere Verbündeten.“ An den Protesten selbst hält sie aber fest. In ganz rechten Kreisen lässt das Träume von einer neuen Querfront gedeihen, gegen das böse Berlin.

Prognosen dazu, wie heftig es werden könnte, will Protestforscher Teune nicht abgeben. Er rechnet aber damit, dass im Winter auch die Szene wieder auf die Straße geht, die sich um die Querdenker-Proteste gebildet hat. „Es gibt etablierte Kommunikationskanäle und ein leicht aktivierbares Protest-Reservoir aus der Zeit der Corona-Demos.“ Die extreme Rechte habe es damals geschafft, Teile der gesellschaftlichen Mitte auf ihre Seite zu ziehen. Möglich, dass ihnen das erneut gelingt.

Je tiefer der gesellschaftliche Spalt dabei wird, desto mehr freut sich der Kreml. Der Verfassungsschutz warnte kürzlich erst, Moskau werde die Propaganda hochfahren und versuchen, die Angst vor einer existenzbedrohenden Energieknappheit anzuheizen. Moskau hofft auf doppelten Profit: Es will Unruhe im Westen stiften und die Ukraine-Solidarität brechen.

Bei aller Sorge sei es wichtig, zwischen antidemokratischen Krakeelern und Menschen mit berechtigten Sorgen zu unterscheiden, sagte SPD-General Kevin Kühnert. Er hält Unruhen für politisch abwendbar. „Wenn wir die richtigen Entscheidungen treffen, kommen wir zusammen durch die Sache durch.“

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