„Wir werden kämpfen bis zum Schluss“

von Redaktion

VON MARC BEYER

München/Kiew – Der Tag ist noch nicht alt, da muss der Kriegstreiber Russland eine kleine, aber symbolträchtige Niederlage hinnehmen. In New York beginnt am Morgen die Sitzung des UN-Sicherheitsrats, in deren Verlauf aus Kiew der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zugeschaltet werden soll. Das kann der russischen Delegation nicht gefallen, doch ihr Versuch, die Rede zu blockieren, endet kläglich. 13 von 15 Mitgliedern des Rates votieren für den Auftritt.

Anlass der Sitzung ist der Kriegsbeginn vor exakt sechs Monaten. „Heute feiert unser Land den Unabhängigkeitstag, und jetzt kann jeder sehen, wie sehr die Welt von unserer Unabhängigkeit abhängig ist“, sagt Selenskyj. Wenn Russland jetzt nicht aufgehalten werde, „werden russische Mörder wahrscheinlich in anderen Ländern landen – in Europa, Asien, Afrika, Lateinamerika“. Er fordert zudem eine Übergabe des besetzten AKWs Saporischschja an die Internationale Atomenergiebehörde und wirft Moskau „nukleare Erpressung“ vor.

Der Präsident hat in den Kriegsmonaten jede verfügbare Bühne gesucht im Werben um internationale Unterstützung wie im Beschwören der ukrainischen Nation und ihrer Stärke. Der gestrige Tag mit gleich zwei markanten Daten ist einer, an dem er seine Worte besonders wuchtig wählt. „Für uns ist die Ukraine die ganze Ukraine“, sagt Selenskyj in seiner Videobotschaft an die Landsleute – einschließlich Donbass, Krim und aller besetzten Regionen: „Wir werden kämpfen bis zum Schluss.“

Den größten Teil seiner Rede hält Selenskyj in ukrainischer Sprache, nur einmal wechselt er kurz ins Russische. Er bezeichnet Moskaus Soldaten als „Mörder, Vergewaltiger und Plünderer“. Mittlerweile seien den Ukrainern sogar die Worte des Englisch sprechenden britischen Premiers Boris Johnson verständlicher als die Sprache des Nachbarn. Der tiefere Sinn hinter diesem Verweis erschließt sich erst Stunden später. Da taucht Johnson überraschend in Kiew auf.

Die Feierlichkeiten, wenn man das Wort in Kriegszeiten überhaupt verwenden kann, sind den Umständen entsprechend bescheiden. In Kiew sind zerstörte russische Panzer ausgestellt. Zudem präsentiert die ukrainische Eisenbahn einen mit patriotischen Graffiti verzierten „Zug des Sieges“. Aber im ganzen Land herrscht auch Angst, dass Russland den Tag für größere Angriffe nutzt. Und tatsächlich berichtet Selenskyj am Abend, dass bei einer Attacke auf einen Bahnhof nahe Dnipropetrowsk 15 Menschen getötet wurden.

In Moskau bemüht man sich gleichzeitig darum, den zuletzt schleppenden Kriegsverlauf als Zeichen der Stärke umzudeuten – militärisch und moralisch. „Alle Ziele werden erreicht“, sagt Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Das Tempo der Angriffe sei verlangsamt, um zivile Opfer zu vermeiden. Eine Reaktion auf den Vorwurf, Kriegsverbrechen zu begehen.

Schoigu geißelt erneut die Militärhilfe für Kiew. Diese erhöhe die Opferzahl und verlängere den Konflikt. Was der Westen von dieser immer wieder bemühten These hält, zeigt er auf seine Weise. Kurz nachdem bereits Deutschland neue Waffenlieferungen angekündigt hat, stocken auch die USA ihre Unterstützung um weitere drei Milliarden Dollar auf.  mit dpa

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