Tokio – Es ist nicht lange her, da schien die Atomkraft in Japan ein Auslaufmodell zu sein. Als zu gefährlich galt sie, als politisch zu riskant. Nicht einmal die im Land gut vernetzte Atomlobby vermochte es über die letzten Jahre, Regierungsvertretern ein unverkrampftes Werben für die Kernenergie zu entlocken. Und auch wenn zuletzt schon wieder zehn von einst 54 Reaktoren ans Netz genommen waren, blieb ein Thema ein rotes Tuch: der Bau neuer Atomkraftwerke.
Doch diese Zeiten sind nun vorbei. Am Mittwoch erklärten Offizielle des Wirtschaftsministeriums in Tokio, dass die Regierung inmitten gestiegener Energiepreise und der Angst vor einem Winter mit Engpässen keinen Ausweg mehr sehe. Neben einer Laufzeitverlängerung für bereits bestehende Reaktoren von bisher bis zu 40 auf 60 Jahre sollen auch ganz neue – und demnach effizientere sowie sicherere – Kraftwerke gebaut werden.
Kaum irgendwo könnte so ein Vorhaben kontroverser, so eine Kehrtwende spektakulärer sein als in Japan. Am 11. März 2011 war das ostasiatische Land von der schwersten Katastrophe seiner jüngeren Geschichte erschüttert worden, als nach einem Tsunami und schweren Erdbeben das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi an der Nordostküste havarierte. In drei der sechs Reaktoren kam es zu Kernschmelzen.
Über die Tage nach dem GAU weitete die Regierung immer wieder der Evakuierungsradius aus. Der 30-Kilometer-Umkreis wurde entvölkert, bis 60 Kilometer entfernte Ortschaften mussten verlassen werden. Die folgenden Monate waren von politischem Chaos geprägt. Für das Land untypisch große Demonstrationen diktierten in Tokio den Takt mit. Der linksliberale Premierminister Naoto Kan kündigte den Ausstieg aus der Atomkraft an. Doch Ende 2012 wurde die Demokratische Partei (DPJ) abgewählt – zugunsten der konservativen Liberaldemokratischen Partei (LDP).
Die LDP trat offen dafür ein, auch in Zukunft auf die Atomkraft setzen zu wollen. Gewählt wurde sie aber eher für das wirtschaftspolitische Versprechen einer aggressiven Ausgaben-, lockeren Geld- und Strukturpolitik. Da dieses wirtschaftspolitische Programm – „Abenomics“ genannt, aber weitgehend erfolglos – viele Hoffnungen auf sich vereinte, sah das Wahlvolk über die Pläne zur Atomkraft hinweg.
Nachdem auf den Atom-GAU hin alle damals 54 Reaktoren vom Netz genommen worden waren, vollzog die LDP einen zaghaften Wiedereinstieg in die Atomkraft, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung seit dem GAU dagegen war. 2014 beschloss die Regierung, dass schrittweise wieder möglichst viele Atomreaktoren ans Netz gehen sollten.
Atomkraft war bei der Bevölkerung stets unbeliebt. Auch die von der Regierung beteuerten strengeren Sicherheitsstandards änderten daran wenig. Aber als in diesem Frühjahr inmitten der Invasion der russischen Regierung in die Ukraine die Energiepreise empfindlich zu steigen begannen, kippte die Stimmung. Im April ergab eine Umfrage der Wirtschaftstageszeitung Nikkei erstmals seit 2011, dass eine Mehrheit für die Nutzung der Atomkraft war.
Seither hat sich die Lage der Energiepreise kaum beruhigt. Die japanische Regierung dagegen hat weitere Schritte unternommen, um einen Wiedereinstieg zu beschleunigen. Während sich derzeit nur rund fünf Prozent des Energiemix aus Atomkraft speist, soll dieser Anteil bis 2030 auf 22 Prozent steigen.
Risikolos ist das nicht. Einerseits ist da die Frage der Unfallgefahr, die durch den Bau neuer Reaktoren und die Aufwertung älterer Kraftwerksgenerationen zwar reduziert werden soll. Andererseits hat man auch in Japan bis heute keine Antwort auf die Frage gefunden, wie mit den täglich zunehmenden Mengen von hochradioaktivem Atommüll dauerhaft umgegangen werden soll.