Kaliningrad – Nicht einmal in der Sommerfrische in der russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad um die frühere Stadt Königsberg ist der Krieg des Landes gegen die Ukraine ganz zu vergessen. Viele Russen verbringen hier, umgeben von den Nato- und EU-Staaten Litauen und Polen, die Ferien an den hellen Sandstränden. Doch der Kaliningrader Gouverneur Anton Alichanow ist alles andere als in Urlaubsstimmung. Seit Monaten sieht sich der 35-Jährige mit den Folgen der EU-Sanktionen im Zuge von Russlands Angriff auf die Ukraine konfrontiert – und beklagt, die Entwicklung in dem Gebiet mit rund einer Million Einwohnern werde gebremst.
Der Politiker, der in der auch als Geburtsort des Philosophen Immanuel Kant bekannten Stadt regiert, war 2018 einer der Gastgeber der Fußball-WM. Das Weltereignis führte zu einem Bauboom, weil viele reiche Moskauer oder St. Petersburger die Schönheit der russischen Ostsee entdeckten. Nun klagt Alichanow bei einer Kaliningrad-Diskussionsrunde des Moskauer Valdai-Forums darüber, dass er wegen der Sanktionen nicht mehr genügend Zement, Metall und Baumaterialien in die Region bekomme. „Vieles muss jetzt aufwendig und teuer per Schiff geliefert werden“, sagt Alichanow, der am 11. September bei Russlands Regionalwahlen wiedergewählt werden will.
Die Lage ist verfahren. Zwar stellte die EU im Juli nach Protesten und Drohungen Russlands klar, dass die Sanktionen nicht zu einem Transitstopp führen dürften. Litauen gab den einen Monat lang eingeschränkten Transit wieder frei. Allerdings gelten nun Quoten. Und mit dem Auto dürfen mit Sanktionen belegte Güter weiter gar nicht eingeführt werden. „Das ist ein grober Verstoß, alle diese Einschränkungen müssen aufgehoben werden“, fordert Alichanow von dem EU-Nachbarn Litauen.
Der Gouverneur will zwar den Schiffsverkehr über die Ostsee im Herbst weiter ausbauen, aber das verteuert die Waren. Alichanow sieht die EU in der Pflicht, den preiswerteren Transit per Bahn sicherzustellen. Andernfalls müsse Russland sich wehren.
„Die Situation ist weit entfernt vom Normalzustand“, sagt der Diplomat Alexej Issakow im russischen Außenministerium. Es seien zwar Fortschritte erreicht worden im Juli. Aber Russland verlange, dass die gesamte Region Kaliningrad von den „illegalen Sanktionen“ der EU befreit und auch der Passagierverkehr in vollem Umfang durch Litauen gestattet werde. „Versuche der EU, die wirtschaftliche Zusammenarbeit des Kaliningrader Gebiets mit anderen Regionen zu regulieren, sind im Grunde eine grobe Einmischung in die inneren Angelegenheiten unseres Landes – und unzulässig.“ Issakow droht nun Gegenmaßnahmen an, sollte die EU nicht noch weiter und stärker einlenken als bisher. Moskaus Verteidigungsministerium schickte zudem unlängst neue Raketen in die militärisch wegen der Nähe zur Nato hochgerüstete Region.
In der Stadt Kaliningrad ist bisher kaum etwas zu spüren von den Sanktionen. Manche Kaliningrader wundern sich darüber, dass bei Angehörigen und Freunden im russischen „Mutterland“ der Eindruck entsteht, es gebe in der Exklave nun eine Blockade. „Die Vielfalt an Waren ist zwar weg, aber es gibt weiter alles zu kaufen. Und natürlich ist alles teurer geworden“, erzählt der Selbstständige Nikolai bei einem Treffen in der Stadt. Manche kämen nicht, weil sie befürchteten, aus dem Gebiet nicht mehr rauszukommen.
Sorgen macht dem 38-Jährigen, der den Krieg gegen die Ukraine einen schweren Fehler nennt, dass es schwerer wird, nach Polen in den Urlaub oder für Wochenendausflüge nach Litauen zu reisen. „Die Polen gaben mir früher ein Visum gleich für Jahre, zuletzt habe ich nur eins für zwei Wochen bekommen.“ Schon jetzt wollen zahlreiche EU-Staaten Russen möglichst gar nicht mehr einreisen lassen. Flugreisen dauern jetzt länger, weil wegen des für russische Flugzeuge gesperrten Luftraums der EU-Staaten die Maschinen Umwege über die Ostsee nehmen müssen.