„Seine Taten überstrahlen die Fehler“

von Redaktion

München – Zum ersten Mal begegneten sie sich 1987 in Moskau, später trafen sich Michail Gorbatschow und Theo Waigel (83) immer wieder. Im Interview erinnert sich der ehemalige Bundesfinanzminister und CSU-Politiker an den Verstorbenen. Er sagt: „Wir hätten allen Grund, ihm Dankgottesdienste zu widmen.“

Herr Waigel, Sie haben Michail Gorbatschow oft getroffen, hatten Briefkontakt. Würden Sie ihn als Freund bezeichnen?

Ich glaube ja. In seinem letzten Brief vom Dezember 2020 schrieb er mir noch: „Lieber Theo“ und am Schluss: „Ich drücke Ihre Hand fest“. Also ja, er war ein Freund. Obwohl Gorbatschow mich mal einen Geizkragen nannte.

Wie bitte?

Das war beim 80. Geburtstag von Helmut Kohl. Als Gorbatschow mich im Publikum erblickte, sagte er: „Ich sehe da Theo Waigel, einen Geizkragen.“ Er war unzufrieden mit dem Angebot, das ich ihm bei der Wiedervereinigung für den Abzug aller russischen Truppen aus Deutschland gemacht hatte. Wir haben den Abzug für zwölf Milliarden D-Mark bekommen, was für uns nicht übel war. Seine Schelte war natürlich ein Scherz.

Sie behalten ihn also in guter Erinnerung?

In all meinen Büros und Wohnungen stehen Fotos von ihm, auf einem vermerkte er handschriftlich: „Ich danke Dir für alles, was Du getan hast.“ Glauben Sie mir: Das und seine Umarmung bedeuten mir mehr als viele Orden und Auszeichnungen, die ich bekommen habe.

Gorbatschow hat geholfen, den Kalten Krieg zu beenden – zuletzt musste er erleben, wie der Kreml einen Krieg beginnt. War das noch sein Russland?

Nein, das war sicher nicht mehr sein Russland. Ich muss sagen, ich habe in all den Jahren seit 1991 um den Mann gebangt und es ist fast ein Wunder, dass er überlebt hat. Boris Jelzin verachtete ihn, Putin auch. Dabei war es nicht Gorbatschow, der die Sowjetunion zertrümmerte, sondern Jelzin, indem er mit Russland aus der Union austrat. Gorbatschow wollte sie mit einem neuen Vertrag retten, was nicht gelang.

Gorbatschow kritisierte das Kreml-Regime oft. Warum schwieg er, als es um den Ukraine-Krieg ging?

Er musste eben Kompromisse schließen, um sein Leben zu sichern. Der alte, geschwächte, einsame Mann konnte einen offenen Affront am Ende nicht mehr wagen – ich denke, das muss man verstehen. Seine Taten und Verdienste überstrahlen die Fehler, die er sicher gemacht hat.

Im Westen wird er als Held gefeiert, in Russland war er isoliert. Machte ihm das sehr zu schaffen?

Es hat ihn sicher sehr geschmerzt. Aber es ist halt oft das Schicksal großer Menschen, dass sie in ihrer Heimat verkannt werden.

Zum ersten Mal begegneten Sie ihm 1987 bei einer Moskau-Reise mit Franz Josef Strauß…

Ich erinnere mich gut, dass Strauß Gorbatschow fragte, ob er schon mal in Bayern war und Gorbatschow zurückfragte, ob es Strauß erste Russland-Reise sei. Strauß nannte dann Namen von Orten, in denen er als Soldat war, etwa Charkiw in der heutigen Ukraine. Gorbatschow nahm ihm das nicht übel.

Strauß soll gesagt haben: „Beim ersten Mal kam ich nur bis Stalingrad …“

Ich habe damals mitstenografiert und kann Ihnen daher versichern: Dieser Satz ist frei erfunden. Strauß kam außerdem nie bis Stalingrad, weil ihm vorher schon die Füße erfroren. Gorbatschow sagte damals übrigens, er sei schon mal in Nürnberg gewesen, bei einem Kongress der DKP, woraufhin Strauß zurückgab, es gebe bessere Gelegenheiten, Bayern kennenzulernen. Er lud ihn dann auch ein.

Sie sagten mal über Gorbatschow, ihm „missriet alles zum Guten“. Was meinten Sie damit?

Der Satz stammt nicht von mir, aber ich fand ihn treffend. Gorbatschow erreichte viel, aber er wollte eigentlich etwas ganz anderes: nämlich den Erhalt des Kommunismus unter veränderten Vorzeichen. Er wollte auch die DDR als kommunistischen Staat erhalten. Die Dinge kamen anders und er hat sie nicht behindert, weil er die Realität akzeptierte. Er hat lieber den Verlust seiner Macht in Kauf genommen, als seine Politik aufzugeben.

Gerade Deutschland hat ihm viel zu verdanken…

Sehr viel. Natürlich hat er Fehler gemacht: Bei der Niederschlagung der Souveränitätsbemühungen in den baltischen Staaten hat es Tote gegeben. Aber er hat Millionen von Menschen ihre Freiheit, Würde und Souveränität zurück gegeben. Er ist ein Held der Geschichte. Wir hätten allen Grund, ihm Dankgottesdienste zu widmen.

Dachte er denn christlich?

Das weiß ich nicht. Aber als er abgesetzt wurde, war ich einer der ersten westlichen Politiker, die damals zu ihm nach Moskau kamen. Ich erlebte einen bleichen, tieftraurigen Menschen. „Herr Präsident“, sagte ich, „in den letzten Wochen haben die Menschen in Deutschland um Sie gebangt und für Sie gebetet.“ Da liefen ihm Tränen übers Gesicht und er sagte: „In der Not erkennt man seine wahren Freunde.“

Denken Sie darüber nach, zur Beerdigung nach Moskau zu reisen?

Das ist in der gegenwärtigen Situation nicht sinnvoll. Da gedenke ich seiner lieber, indem ich in den Dom von München oder in die St.-Michaels-Kirche gehe und für ihn bete.

Interview: Marcus Mäckler

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