Joe Biden hat in einer ungewöhnlich aggressiven Rede einen großen Teil der US-Bürger – Millionen überzeugte Anhänger von Donald Trump – zur Gefahr für die Demokratie und zu Extremisten erklärt. Biden erinnert damit an seine Parteifreundin Hillary Clinton, die als Präsidentschaftskandidatin Trump-Wähler als „Bedauernswerte“ abgekanzelt hatte. Wie das an den Wahlurnen ausging, ist bekannt. Die Aussagen Bidens zeigen nun, dass er seine einst versprochene Rolle als Versöhner nach der Ära Trump aufgegeben hat und mit allen Mitteln die Parteibasis für die Kongresswahlen aufwecken will.
Dabei ist die Angstmacherei faktisch unbegründet. Die eindeutigen Urteile nach den Wahlanfechtungen 2020 und dem Sturm auf das Kapitol haben gezeigt, dass die staatlichen Kontrollmechanismen funktionieren. Kurios ist deshalb, dass der Präsident mit seiner Kritik indirekt auch den Obersten Gerichtshof attackierte, dessen Abtreibungsurteil seiner Partei nicht passt. Doch wer die Demokratie glaubhaft verteidigen will, muss auch die Rechtsprechung im Land akzeptieren und darf nicht indirekt einen Teil der höchsten Richter als Feind ansehen.
Man kann sich des Eindrucks nicht verwehren, dass die Ultra-Progressiven in der Partei Biden vor sich hertreiben und der Präsident dies duldet. Am Ende zeigte die Rede deshalb vor allem eines: die wachsende Verzweiflung eines Staatsmannes, der nicht weiß, wofür er steht – abgesehen von einer Dämonisierung des politischen Gegners.
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