Moskau – Leise erklingt das Requiem von Mozart. Das Licht im Säulensaal des Moskauer Gewerkschaftshauses ist gedämmt. Der Sarg steht offen. Zeit für den Abschied von einem großen Politiker, der in Deutschland für seine Verdienste um die Wiedervereinigung bis heute hoch geschätzt wird: Michail Gorbatschow. Es sind Tausende, die am Samstag dem Friedensnobelpreisträger über Stunden hinweg die letzte Ehre erweisen. Aber die große Prominenz fehlt: Kremlchef Wladimir Putin kommt nicht. Aus dem Westen kann kaum ein Spitzenpolitiker anreisen.
Nur so als Gedanke: Wie hätte der Abschied vom früheren sowjetischen Staatschef Gorbatschow in Friedenszeiten ausgesehen? Nun blickt in dem Gebäude unweit des Kreml ein riesiges Schwarz-Weiß-Porträt des Mannes mit dem markanten Feuermal auf der Stirn auf die Besucher herab. Deren Weg führt dann nach rechts auf eine mit Blumen überladene Balustrade zu. Dahinter steht der Sarg mit dem wächsernen Leichnam. Draußen ist die Warteschlange lang.
Zeit zum Innehalten bleibt kaum: ein kurzer Augenblick des Blumenablegens, eine kleine Verbeugung. Die Ordner winken ungeduldig weiter. „Nicht stehen bleiben“, raunen sie. „Ich musste trotzdem weinen, als ich vorbeiging“, sagt die Rentnerin Sifa. „Mit Gorbatschow ist eine Ära zu Ende gegangen, wir wissen nicht, wie es jetzt weitergehen wird.“ Über zwei Stunden hat Sifa angestanden. Gorbatschow habe sie viel zu verdanken, sagt die Moskauerin. Er habe Russland geweckt, das Land der Welt geöffnet – und die Welt für die eigenen Bürger. „Er war auch der erste Staatschef, den ich als Mann empfunden habe.“ Gorbatschow habe Frau und Familie gehabt und die Liebe offen gezeigt.
Es sollte ein Begräbnis in bescheidenem Rahmen sein, sagt Gorbatschows Tochter Irina noch vor der Trauerfeier. Ein Staatsbegräbnis gibt es nicht. Putin steht am Samstag nicht am Sarg und hält auch keine Trauerrede – anders als noch 2007, als Präsident Boris Jelzin starb. Dessen Leichnam wurde in Russlands wichtigster Kirche aufgebahrt, der Christ-Erlöser-Kathedrale.
All diese Ehren gibt es für Gorbatschow nicht. In Russland sehen ihn viele Politiker und Bürger als „Totengräber der Sowjetunion“, die unter seiner Führung 1991 zusammenbrach. Auch Putin bezeichnete einst das Ende der Sowjetunion als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Noch während der Trauerfeier veröffentlicht der Kreml eine Mitteilung, dass der Präsident mit seinem türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdogan telefoniert habe. Nicht der Kremlchef lobt Gorbatschow darin, sondern Erdogan.
Anders als bei Jelzin steht auch keine internationale Politprominenz am Sarg. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte ab, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ließ sich von seinem Botschafter in Russland vertreten. Vielleicht wäre US-Präsident Joe Biden über den Atlantik geflogen. Gegen ihn hat Moskau aber ein Einreiseverbot verhängt, ebenso wie gegen andere westliche Politiker. Wegen des russischen Angriffskriegs herrscht Eiszeit zwischen Russland und dem Westen.
Viele der mehreren Tausend, die vor dem Haus der Gewerkschaft stehen, haben Gorbatschow als Politiker noch selbst erlebt. Es sind aber auch einige Jüngere in der Schlange, und das bewusst. „Ein Klassenkamerad meiner Tochter ist auch dabei“, sagt Anton Orech, ehemaliger Kolumnist beim liberalen Radiosender Echo Moskaus. Sie vereine wohl nicht nur die Verehrung für den Reformer, sondern auch die aktuelle politische Situation. „Unter den jetzigen Bedingungen ist es das einzige legale Mittel, um seine Meinung kundzutun.“