London – Als Liz Truss ihre Bewerbungsrede für die Nachfolge von Boris Johnson als Chefin der britischen Konservativen und Premierministerin beendet hatte, verlor sie erst einmal die Orientierung. Zielstrebig schritt sie den Mittelgang zwischen den versammelten Fotografen und Journalisten ab – bevor sie merkte, dass der keineswegs zum Ausgang führte. Ein Mitarbeiter lotste die perplex dreinblickende Kandidatin in die richtige Richtung.
Trotz dieses kleinen Lapsus war ihre Bewerbung nun, eineinhalb intensive Monate später, erfolgreich. Das dürfte die 47-Jährige dem Gespür für die Vorlieben der konservativen Parteimitglieder verdanken. Sie präsentierte sich in den vergangenen Wochen als Kandidatin der Kontinuität, versprach Steuersenkungen und einen schlanken Staat – alles gern gehörte Botschaften an der konservativen Basis. Und Truss sagte den Linken den Kampf an, besonders denjenigen, die Kritik an der Kolonialvergangenheit und dem Umgang mit Minderheiten äußern.
Doch was Musik in den Ohren der Tory-Mitglieder ist, ist längst nicht Staatsräson oder mehrheitstauglich. Immer wieder verbrannte sich Truss mit Äußerungen die Finger, die sie hinterher stets als Missverständnisse oder absichtliche Falschdarstellung der Presse abtat. So sagte die bisherige Außenministerin zu Beginn des Kriegs in der Ukraine britischen Freiwilligen, die an der Seite Kiews in den Kampf gegen die russischen Invasoren ziehen wollten, ihre volle Unterstützung zu – um kurz danach zurückzurudern.
Geboren 1975 als Mary Elizabeth Truss in Oxford, wuchs sie im schottischen Paisley und im englischen Leeds auf. Ihr Vater war ein Mathematikprofessor, die Mutter Krankenschwester, beide beschrieb sie einst als „linksgerichtet“. Ihre Mutter nahm sie sogar auf Demonstrationen gegen Atomwaffen mit. Doch Truss begehrte auf gegen die politische Prägung und schloss sich zunächst den Liberaldemokraten an, bevor sie zu den Konservativen wechselte.
Als ihr großes Vorbild gilt Ex-Premierministerin Margaret Thatcher (1979-1990). Das soll so weit gehen, dass sie versucht haben soll, berühmte Fotos der „Eisernen Lady“ nachzustellen. Truss bestreitet das. Doch die Bilder, die von der britischen Presse gerne als Gegenbeweis gezeigt werden, sprechen eine andere Sprache: Liz Truss auf dem Panzer, mit Pelzmütze in Moskau, mit niedlichem Kälbchen im Stall, auf dem Motorrad – alles sieht aus wie die sorgsam arrangierte Reinszenierung einer ikonischen Thatcher-Aufnahme.
Die Mutter zweier Töchter im Teenager-Alter stellt sich gerne als bodenständiges und lebensfrohes „Mädchen aus Yorkshire“ dar. Eines der Charaktermerkmale ist eine Sprunghaftigkeit, die ihr teils als Anpassungsfähigkeit, teils als Opportunismus ausgelegt wird. Aus ihrer frühen politischen Karriere gibt es Äußerungen, von denen sie sich inzwischen distanziert: für Cannabis oder gegen die Monarchie, 1994 war das.
Man muss nicht so weit zurückgehen. Vor dem Brexit-Referendum trommelte Truss für den Verbleib in der EU – wurde aber hinterher eine Befürworterin des Austritts. Inzwischen gilt sie als Bekehrte („born again Brexiteer“). Erwartet wird, dass sie innerhalb von Tagen nach ihrem Amtsantritt den Streit mit der EU um den Brexit-Status für Nordirland eskalieren lässt. Gern spielt sie mit anti-europäischen und anti-französischen Ressentiments.
Ihren Aufstieg verdankt Truss dem Brexit-Sinneswandel. Schon früh unterstützte sie Johnson. Unter ihm stieg sie zur Außenministerin auf. Zuvor hatte sie sich als Ministerin für internationalen Handel einen Namen gemacht.
Die britische Innenministerin Priti Patel hat kurz vor der Ernennung der neuen Premierministerin Liz Truss ihr Amt abgegeben. Patel wird eng mit einigen der umstrittensten Reformen aus der Regierungszeit Johnsons in Verbindung gebracht.