London – Mit einem gewollt dramatischen Auftritt hat die selbst ernannte „Trägerrakete“ Boris Johnson der neuen britischen Premierministerin Liz Truss die Show gestohlen. Der bisherige Regierungschef sicherte seiner Nachfolgerin an deren ersten Tag im Amt zwar „nichts als energische Unterstützung“ zu – allerdings machte der 58-Jährige seinem Ärger über das erzwungene Aus deutlich Luft und ließ Raum für Spekulationen über ein Comeback.
Für die bisherige Außenministerin wird der wichtigste Job im Vereinigten Königreich zur Mammutaufgabe: Rasant steigende Energiekosten, ihre Konservative Partei gespalten, die Gesundheitsversorgung in der Krise und der russische Krieg gegen die Ukraine sind die größten Herausforderungen, denen die 47-Jährige gegenübersteht. Sie wurde gestern von Königin Elizabeth II. auf Schloss Balmoral zur 56. britischen Premierministerin ernannt.
Unterdessen hatte Johnson seinen denkwürdigen Auftritt. Für seine künftige Rolle nutzte er einen merkwürdig klingenden Vergleich. „Lassen Sie mich sagen, dass ich nun wie eine dieser Trägerraketen bin, die ihre Funktion erfüllt hat und sanft wieder in die Atmosphäre eintritt und unsichtbar irgendwo in einem entfernten Teil des Pazifiks versinkt“, sagte er in seiner Abschiedsrede vor der berühmten schwarzen Tür in der Downing Street. Seine Ehefrau Carrie sowie zahlreiche Mitarbeiter, Abgeordnete und Vertraute klatschten begeistert Beifall.
Nach 1140 Tagen im Amt zeigte sich Johnson über den vom Kabinett erzwungenen Abschied verärgert: „Sie haben die Regeln auf halbem Weg geändert.“ Der studierte Historiker verglich sich mit einem römischen Machthaber: „Wie Cincinnatus kehre ich auf meinen Acker zurück.“ Lucius Quintus Cincinnatus (519-430 v.Chr.) war nach erfolgreicher Schlacht zur Feldarbeit zurückgekehrt – übernahm aber erneut die Alleinherrschaft, als er darum gebeten wurde.
Johnson war nach zahlreichen Skandalen zum Rückzug gezwungen worden, ist aber bei der Parteibasis noch beliebt. Er sitzt weiterhin als normaler Abgeordneter im Parlament. Seinen Einfluss zu begrenzen, gilt als eine der wichtigsten Aufgaben seiner Nachfolgerin.
Dass die Audienz bei der Queen nicht im Londoner Buckingham-Palast stattfand, sondern erstmals auf dem Landsitz Balmoral, lag an den andauernden Mobilitätsproblemen der 96 Jahre alten Monarchin. Die Königin hält sich traditionell von Mitte Juli bis Mitte September in Schottland auf. Mit Truss hat die Queen bereits 15 Premierminister und Premierministerinnen während ihrer 70 Jahre dauernden Regentschaft gesehen. Truss ist die dritte Frau an der Regierungsspitze nach Margaret Thatcher und Theresa May.
Sie scharte ein Team an vertrauten um sich, entließ sofort andere Minister, die ihre Gegenkandidaten unterstützt hatten. James Cleverly, zuletzt Bildungsminister, übernimmt das Außenministerium. Die konservative Hardlinerin Suella Braverman wird Innenministerin, Therese Coffey wird Vize-Regierungschefin.
Erwartet wird, dass Truss bald einen Plan vorlegt, mit dem der enorme Anstieg der Lebenshaltungskosten abgefedert werden soll. Auch in Großbritannien geht die Furcht um, dass die hochschnellenden Energiekosten Millionen in finanzielle Schieflage bringen könnten.
Berichten zufolge sollen daher die Preise für Gas und Strom eingefroren werden – das könnte den Staat bis zu 100 Milliarden Pfund (116,6 Mrd. Euro) kosten. Sollte Truss an ihren Ankündigungen festhalten, sofort Steuern zu senken, wird das ein Spagat. Hinzu kommen die Probleme des unterfinanzierten Gesundheitsdiensts NHS und große Unzufriedenheit im öffentlichen Sektor über Löhne und Gehälter. Erschwerend kommt für Truss hinzu, dass sie sich dem rechten Flügel ihrer Partei angedient hat, zu dessen Dogmen ein schlanker Staat und eine harte Haltung zur der EU gehören.