Isjum/Moskau – Am Ortsausgang von Isjum hängt sie schon, die gelb-blaue ukrainische Flagge, auch im Stadtzentrum von Kupjansk. Die beiden Kleinstädte sind wie das zuvor von ukrainischen Truppen eroberte Balaklija wichtige strategische Orte im Osten der Ukraine. Von hier aus wollte Russland seinen Vormarsch auf den Donbass vorantreiben. Jetzt hat Kremlchef Wladimir Putin andere Sorgen.
Kupjansk als Eisenbahnknoten mit Anschluss an das russische Bahnnetz diente zur Versorgung der Truppen. Von Isjum und Balaklija aus sollten die Angreifer die ukrainischen Verteidiger im Großraum Slowjansk-Kramatorsk, der letzten von Kiew gehaltenen Festung im Donbass, in die Zange nehmen.
Doch daraus wird nichts. Innerhalb weniger Tage haben Kiewer Truppen große Abschnitte zurückerobert. Der ukrainische Generalstab sprach am Sonntag von mehr als 3000 Quadratkilometern. Im Gebiet Charkiw kommt die Armee nicht nur in südlicher und östlicher Richtung voran, sondern auch nach Norden in Richtung Staatsgrenze. Im Laufe des Sonntags zogen sich die russischen Truppen aus weiteren Grenzorten zurück. Auch aus Teilen des südlichen Gebiets Cherson wurde am Abend ein russischer Rückzug gemeldet. Zugleich fiel in weiten Teilen der Ostukraine der Strom aus; Charkiw lag im Dunkeln. Offenbar zerstörten russische Einheiten beim Anzug oder per Raketen Kraftwerke.
Der Einschätzung der US-amerikanischen Militärexperten vom Institute for Study of War nach übersteigen die ukrainischen Geländegewinne binnen weniger als einer Woche diejenigen der Russen seit April. „Die Befreiung von Isjum wäre der bedeutendste militärische Erfolg der Ukraine seit dem Sieg in der Schlacht um Kiew im März“, schrieben die Experten am Sonntag.
Der schnelle Vorstoß beweglicher ukrainischer Einheiten zwang die russischen Truppen im Gebiet Charkiw zu einem hastigen Rückzug gen Osten. Ein Verband von rund 10 000 russischen Soldaten musste sich hinter den Fluss Oskil zurückziehen. Der russische Generalstab, der erstmals nach Beginn der Gegenoffensive überhaupt Stellung nahm, sprach euphemistisch von einer „Umgruppierung“, um die Kräfte für den weiteren Vormarsch auf den Donbass zu bündeln. Doch zurückgelassene Panzer, Ausrüstung, Waffen und Munition sprechen nicht für einen planmäßigen Abzug.
Ein Wendepunkt im Krieg? Oder verfrühte Hoffnung? Noch immer hält Russland gut ein Fünftel des Staatsgebiets besetzt, einschließlich Krim. Doch zumindest die Stimmung hat sich gedreht. Für Kiew ist der Vormarsch auch wichtig, um weitere Waffenlieferungen aus dem Westen mit realen Ergebnissen rechtfertigen zu können.
„Die ukrainischen Soldaten haben Dutzende russischer Panzer erbeutet. Darunter modernste. Vielleicht brauchen wir gar keine Leopard-Panzer mehr?“, fragte der ukrainische Kriegsreporter Andrij Zaplijenko in der allgemeinen Euphorie. In Kiew pendelt die Stimmung zwischen Stolz und Staunen.
Der Freude in Kiew steht Trübsal, Verunsicherung und Wut in Russland und bei den Separatisten in Donezk gegenüber. Als möglicher neuer Angriffspunkt der Ukrainer gilt die Region um Wuhledar an der westlichen Front des Donezker Gebiets. „Es wird bald geschehen, der Feind ist beflügelt“, prognostiziert der dortige Separatistenkommandeur Alexander Chodakowski. Und fragt, was er noch entgegensetzen kann: „Ich werde mit meinen drei Mörsern und Munitionsresten in den Kampf gehen.“
Der Krieg ist damit noch lange nicht vorbei, warnen Experten. Das Angriffspotenzial Russlands ist weiterhin groß. Doch die Niederlage habe auch massive taktische Defizite der russischen Militärführung und die mangelnde Moral der russischen Kämpfer aufgezeigt. Der Ärger über die militärische Führung ist gerade im ultrarechten Lager der Kriegsbefürworter gewaltig. Russische Blogger fordern Konsequenzen und Rücktritte. Häufiger fällt dabei der Name von Verteidigungsminister Sergej Schoigu, der für die schlechte Vorbereitung der Armee auf den Krieg verantwortlich gemacht wird.
Der Tschetschenen-Anführer Ramsan Kadyrow kritisierte die Lage außergewöhnlich scharf. Die Soldaten seien nicht ausreichend vorbereitet gewesen, er verstehe nicht, welche Strategie verfolgt werde, sagte er auf Telegram. Er werde nötigenfalls Putin die Situation schildern.