„Ein bisschen skurril, fast wie Karneval“

von Redaktion

Deutsche TV-Sender übertragen stundenlang aus London – nicht immer mit Substanz

München/London – Es ist ein Tag der Superlative, in jeder Hinsicht. Von der größten Trauerfeier der Geschichte ist die Rede, vier Milliarden Menschen, so wird geschätzt, werden weltweit im TV den Abschied von der britischen Königin gesehen haben. Da ist natürlich auch das deutsche Fernsehen live dabei. Bilder aus London auf vielen Kanälen, insbesondere auf beiden öffentlich-rechtlichen. Kein Entkommen für die, die nicht dabei sein wollen in Westminster Abbey.

ARD und ZDF seien sich darüber einig gewesen, „dass der Tod von Queen Elizabeth II. ein Ereignis von so überragender journalistischer und zeithistorischer Bedeutung ist, dass in diesem einen Sonderfall eine Parallelübertragung stattfinden kann und sollte“, heißt es von der ARD, ganz ähnlich äußert sich der Mainzer Sender. Danach werde man zur Praxis zurückkehren, royale Ereignisse wieder im Wechsel zu übertragen. Aber auch die großen Privaten, RTL und Sat.1, haben ihr Programm freigeräumt, ebenso die Nachrichtenkanäle ntv und Welt. Journalisten und jede Menge „Adelsexperten“, viele davon selbst von Adel, kommen zu Wort.

Ab 9 Uhr wird live übertragen, doch worüber sprechen, wenn es noch nicht viel mehr zu sehen gibt als den Einzug der Ehrengäste, der gekrönten und ungekrönten Staatsoberhäupter aus aller Welt? Es sind die Stunden von Sätzen wie „Es ist tatsächlich ein Tag des Abschieds“. Leontine von Schmettow sagt ihn im Ersten bei Julia-Niharika Sen („Tagesschau“). Sie wird nicht die Einzige bleiben, die das feststellt. Moderatorin Sen beginnt souverän, spricht später aber auch einmal von „Animositäten“, wenn sie Konflikte zwischen Staaten meint. Das ZDF hat keinen Geringeren als Chefredakteur Peter Frey aufgeboten – dass ihm diese Rolle nicht so liegt, strahlt er die ganze Zeit über aus. Frey kommentiert oft feierlich, was man sowieso sieht. „Wir werden viele Menschen weinen sehen“, prophezeit RTL-Experte Michael Begasse bei Moderatorin Katja Burkard, am schwächsten beginnt Sat.1 mit Alina Merkau und dem Satz „Alle Welt schaut nach London“. Später entfährt ihr, dass der Auftritt vieler Uniformierter „ein bisschen skurril, fast wie Karneval“ sei.

Alle Sender bieten (politische) Korrespondenten auf, die sich mehr oder weniger wohlfühlen in ihrem Job an diesem Tag. Den Vorteil, näher dran zu sein, können sie kaum nutzen. Annette Dittert (ARD) und Theo Koll (ZDF) liefern aber durchaus Substanzielles, Jürgen Weichert von RTL wirkt etwas verloren am Rand einer Schnellstraße. „Wir hören die erste Musik“, meldet das Sat.1-Duo Marlene Lufen und Vanessa Blumhagen. Die schwer zu beantwortende Frage, was nun aus der britischen Monarchie wird, wird dutzende Male gestellt.

Während des Gottesdienstes haben die Kommentatoren Pause, nur die Dolmetscher sprechen. Danach beginnen die Analysen, eine Körpersprachexpertin wertet bei Sat.1 eine Zeitlupe aus und stellt fest, dass Charles „mit Sicherheit sehr erschöpft“ ist. Der Rest sind sprachliche Stilblüten und Kuriositäten wie der Auftritt von Paradiesvogel Ross Antony, ebenfalls bei Sat.1. „Irgendwas ist nicht in Ordnung“, erkennt er beim Blick auf die trauernden Royals und wünscht sich, dass der neue König in puncto familiäre Harmonie „auf jeden Fall etwas machen kann“. RUDOLF OGIERMANN

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