Rätsel um tödlichen Polizeieinsatz

von Redaktion

VON ALEXANDER SCHÄFER

Dortmund – Der Tod von Mouhamed D. sorgt in Nordrhein-Westfalen für Wut und Entsetzen – und viele Fragezeichen. Am 8. August starb der 16-jährige Flüchtling aus dem Senegal in Dortmund durch mindestens vier Polizeischüsse. Noch immer sind die Ermittlungen nicht abgeschlossen. Doch selbst der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) hat angesichts neuer Details und Wendungen in dem Fall Zweifel daran, dass der Einsatz korrekt und verhältnismäßig abgelaufen ist.

Die jüngste Entwicklung hat dramatische Züge und das Potenzial, das Vertrauen in die Polizei schwer zu erschüttern. Ermittler haben die Wohnungen und Diensträume der an dem Einsatz beteiligten Polizisten durchsucht. Dabei wurden die Handys der Beamten und die Dienstpistole des Dienstgruppenleiters sichergestellt. Denn es gibt mittlerweile einen Zeugen, der behauptet, auch der Hauptkommissar hätte bei dem Einsatz in dem Innenhof einer Wohngruppe geschossen.

Die Pistole, eine Walther P99, wird nun untersucht. Die Auswertung der Handys soll klären, ob sich die Polizisten nach dem Einsatz über den Verlauf möglicherweise abgesprochen haben. Der zuständige Oberstaatsanwalt Carsten Dombert geht aktuell davon aus, dass der Einsatz nicht verhältnismäßig war. Dieser Bewertung will sich Innenminister Reul so noch nicht anschließen, viele Fragen seien noch nicht geklärt. Vieles aber deutet darauf hin, dass hier – wie von Vertretern der Opposition im Düsseldorfer Landtag befürchtet – ein Polizeieinsatz aus dem Ruder gelaufen ist.

Der 16-Jährige hatte apathisch in dem Innenhof gesessen, ein großes Messer gegen seinen Bauch gerichtet. Er war erst tags zuvor in einer Dortmunder Jugendpsychiatrie untersucht, aber nicht eingewiesen worden. Nach dem Notruf eines Mitarbeiters der Jugendwohngruppe treffen nach und nach mehr Streifenwagen dort ein. Suizidversuch lautet die Einsatzbezeichnung. Zwölf Polizisten sind schließlich vor Ort. Kontaktversuche für ein Gespräch bleiben erfolglos. Keiner der Beamten hat seine Bodycam angeschaltet – Aufnahmen hätten den Ermittlern heute wichtige Hinweise geben können.

Weil der Einsatzleiter eine „unmittelbare Lebensgefahr“ befürchtet, nähern sich die Polizisten dem Jugendlichen. Ein Sondereinsatzkommando wird aus Zeitgründen nicht angefordert. Ein Polizist versprüht Pfefferspray, in der Annahme, der 16-Jährige könnte dann überwältigt werden. Doch ohne Erfolg. Später kommt heraus, dass das Reizgas abgelaufen war. Die Untersuchung, inwieweit sich dies ausgewirkt haben könnte, läuft noch. Weil der Jugendliche weiter das Messer hat, schießen die Polizisten mit einem Taser auf ihn. Es trifft aber nur eine Elektrode, es fließt also kein Strom. Wenige Sekunden später feuern andere Polizisten einen zweiten Taser ab. Diesmal treffen beide Elektroden, aber auch diesmal bleibt die erhoffte Wirkung aus.

Dann soll Mouhamed D. mit dem Messer in der Hand losgelaufen sein und der sogenannte Sicherungsschütze schießt. Sechs Schüsse fallen, vier Kugeln treffen den Flüchtling. Drei Stunden später stirbt er im Krankenhaus. Der Schütze ist suspendiert, gegen vier weitere Polizisten wird ebenfalls ermittelt. Mouhamed D. wurde mittlerweile in seiner Heimat Senegal beerdigt. Im Dortmunder Norden, wo die Polizei schon vorher einen schweren Stand hatte, verfolgt man die Ermittlungen mit Misstrauen.

Das Bundeskriminalamt wertet derzeit ein Telefonmitschnitt aus. Einer der Jugendbetreuer hatte von seinem Handy mit der Leitstelle telefoniert, bis die Schüsse fielen. Außerdem gibt es noch ein Video, das aber erst nach den Schüssen beginnt. Innenminister Reul sagte vergangene Woche, dass er kein Datum für ein endgültiges Ergebnis nennen könne. „Es ist in aller Sinne, dass zügig, aber auch gründlich ermittelt wird.“ Die SPD fordert rasche Antworten vom CDU-Innenminister. Warum ist die Lage offenbar innerhalb kürzester Zeit eskaliert? Und vor allem: Lag hier tatsächlich eine Notwehrsituation vor?

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