Berlin – Lange Schlangen vor Wahllokalen, die auch nach 18 Uhr noch offen hatten, falsche Stimmzettel, zu wenig Wahlurnen, überforderte Helfer: Am 26. September 2021 schüttelte die Republik den Kopf über die Hauptstadt, die mal wieder nichts auf die Reihe zu bekommen schien. Der Superwahltag mit vier Abstimmungen, darunter denen zum Bundestag und zum Abgeordnetenhaus, war geprägt von beispiellosen organisatorischen Problemen und Pannen. Ein Jahr später sind die Nachwehen längst nicht ausgestanden.
Am Mittwoch steht ein wichtiger Schritt bei der politischen und juristischen Aufarbeitung an. Berlins Verfassungsgerichtshof verhandelt öffentlich über Einsprüche gegen die Wertung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den zwölf Bezirksparlamenten. Gehört werden diverse Beschwerdeführer und Beteiligte. Möglich ist, dass die Wahl in einigen der 78 Berliner Wahlbezirke wiederholt werden muss. Eine Entscheidung darüber fällt das Gericht dann voraussichtlich bis Ende des Jahres.
Die Sitzung gilt als eine der wichtigsten in der Geschichte des höchsten Berliner Gerichts. Denn erstmals verhandeln die Richter außerhalb ihres Domizils: Statt im Kammergerichtsgebäude kommen sie in einem großen Hörsaal der Freien Universität zusammen. Die Gründe dafür sind die ungewöhnlich große Zahl von Verfahrensbeteiligten und das immense öffentliche Interesse. „Es handelt sich um die bislang größte Gerichtsverhandlung dieser Art in Berlin“, sagt Sprecherin Lisa Jani. Bis zu 570 Teilnehmer finden im Saal Platz. Auch reichlich Journalisten wollen dem juristischen Spektakel bewohnen. Ihre Laptops dürfen sie dabei nicht benutzen: Das Tippen der Tasten sei zu laut und könne daher die Sitzung stören, befand das Gericht.
Über die Frage, ob die Richter die Wahl ganz oder teilweise für ungültig erklären, sodass sie komplett oder in einigen Wahlbezirken wiederholt werden müsste, wird seit Langem spekuliert. Zu erwarten ist, dass sie dazu am Mittwoch erste rechtliche Einschätzungen durchblicken lassen – ohne freilich die Entscheidung vorwegzunehmen. Dazu bleiben nach der Verhandlung drei Monate Zeit. Eine mögliche Wahlwiederholung wiederum müsste danach innerhalb von 90 Tagen über die Bühne gehen – also je nach Entscheidungsdatum bis allerspätestens Ende März 2023.
Auch im Hinblick auf den Bundestag steht die Möglichkeit einer Wahlwiederholung im Raum. Darüber befindet – womöglich im Oktober – zunächst der Bundestag selbst auf Basis einer Empfehlung seines Wahlprüfungsausschusses.
Erwartet wird, dass anschließend Klagen dagegen beim Bundesverfassungsgericht eingehen und dieses das letzte Wort hat. Entscheidend bei den Wahlprüfungsverfahren auf Bundes- und auf Landesebene ist die Frage, ob Fehler am Wahltag mandatsrelevant waren – ob sie also Auswirkungen auf Mandatsverteilung und Zusammensetzung des Parlaments hatten. Die Meinungen darüber gehen allerdings weit auseinander. STEFAN KRUSE