Brasilien zittert dem Wahltag entgegen

von Redaktion

Fast wie bei Trump: Angesichts schlechter Umfragewerte raunt Amtsinhaber Bolsonaro von möglichem Betrug

Rio de Janeiro – Kurz vor seiner drohenden Niederlage gegen Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva bei der Wahl in Brasilien will Amtsinhaber Jair Bolsonaro das Ruder noch herumreißen. „Ihr wisst sehr gut, wer Lula da Silva ist, der größte Dieb in der Geschichte Brasiliens“, ruft der Staatschef seinen Anhängern in der Hafenstadt Santos zu. „Jetzt will er an den Tatort zurückkehren. Aber er wird nicht zurückkommen, denn wir werden in der ersten Runde gewinnen.“

Bolsonaros Problem: In den jüngsten Umfragen baute Ex-Präsident Lula von der linken Arbeiterpartei (PT) seinen Vorsprung weiter aus. Er würde demnach bei der ersten Wahlrunde am Sonntag auf 48 Prozent der Stimmen kommen, Bolsonaro gerade mal auf 31. Auch in der Stichwahl deutet alles auf einen deutlichen Sieg von Lula hin.

Angesichts des klaren Trends sorgt Bolsonaro schon mal vor. Ähnlich wie der ehemalige US-Präsident Donald Trump streut er immer wieder Zweifel am Wahlsystem und kündigte bereits an, eine Niederlage womöglich nicht anzuerkennen. Anhänger fordern unverhohlen einen Militärputsch. „Dafür gibt es aber keine Mehrheit, noch nicht mal bei den Streitkräften“, sagt Professor Marco Antonio Teixeira von der Stiftung Getúlio Vargas in São Paulo. „Wir haben eine starke Zivilgesellschaft und vielfältige wirtschaftliche Interessen. Ein Staatsstreich würde nicht in die heutige Zeit passen.“

Dennoch ist die Stimmung aufgeheizt. In den vergangenen Monaten wurden mindestens drei Lula-Anhänger von mutmaßlichen Bolsonaro-Fans getötet. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) forderte die Behörden auf, sichere Wahlen zu gewährleisten. „Hasskommentare, Belästigungen und schwere politische Gewalt haben viele Brasilianer verängstigt, ihre politische Meinung zu äußern und ihre politischen Rechte auszuüben“, sagt die HRW-Regionalchefin Juanita Goebertus.

Bolsonaros Wählerbasis sind die konservativen Evangelikalen, die Waffenlobby und die mächtigen Landwirte. Für seine Anhänger ist er das letzte Bollwerk gegen den Kommunismus, seine Gegner halten ihn für einen Protofaschisten. Während der Pandemie leugnete Bolsonaro das Coronavirus und zog Impfungen in Zweifel. Mehr als 680 000 Menschen starben in Brasilien im Zusammenhang mit Covid-19. Lula nennt seinen Gegner wegen dessen zögerlicher Corona-Politik einen Völkermörder.

Lula, Ikone der Linken, setzt im Wahlkampf vor allem auf Nostalgie. Der Sohn armer Eltern und ehemalige Gewerkschaftsführer regierte Brasilien bereits von Anfang 2003 bis Ende 2010. Wegen der hohen Rohstoffpreise und der starken Industrie boomte Brasilien damals. Mit Sozialprogrammen holte er Millionen Menschen aus der bittersten Armut. Jetzt verspricht er nicht weniger, als Brasilien zu retten.

Allerdings blühte während Lulas Präsidentschaft auch die Vetternwirtschaft in der größten Volkswirtschaft der Region. 2018 wurde er selbst wegen Korruption zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Im vergangenen Jahr hob ein Richter die Urteile aus formalen Gründen auf – Lula erhielt seine politischen Rechte zurück. MARTINA FARMBAUER

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