München/Moskau – Wladimir Putin zelebriert erneut die Annexion ukrainischer Gebiete. Doch anders als bei der Aufnahme der Krim ins russische Staatsgebiet ist diesmal – abseits von Putins Anhängerschaft auf dem Roten Platz – keine Euphorie in der russischen Bevölkerung zu spüren. Im Gegenteil: Laut einer Umfrage des auch im Westen als vergleichsweise authentisch anerkannten Meinungsforschungsinstituts Lewada sagten 47 Prozent der Befragten aus, ihre Gefühlslage nach Putins Teilmobilmachung sei von „Angst, Furcht, Entsetzen“ geprägt. Nur 23 Prozent gaben demgegenüber an, „stolz auf Russland“ zu sein.
Im Kreml löst der Stimmungsumschwung offenbar Panik aus. So erklärte ausgerechnet Margarita Simonjan, die Chefredakteurin von Putins Propaganda-Sender Nummer eins RT: „Wir müssen aufhören, auf allen Ebenen zu lügen, überhaupt überall in unserem Land: in Banken, Ministerien, Wehrdienststellen, Fabriken, Schulen, Universitäten, Medienorganisationen.“ Lügen führten stets zu „Fehlentscheidungen“ und „nicht wieder gutzumachenden Verlusten“.
In den russischen sozialen Medien erntete Simonjan dafür Spott: „Wenn es ihr gelingt, nicht mehr zu lügen, was macht sie dann? Von ihren Ersparnissen leben? Sie kann doch nichts anderes als lügen“, so ein Blogger.
Als Einleitung einer neuen Glasnost-, also Offenheits-Bewegung à la Gorbatschow wird Simonjans bemerkenswerte Kehrtwende von den Russen nicht verstanden. Vielmehr kann der Kreml angesichts der Teilmobilisierung gar nicht anders, als die nicht mehr zu übersehenden militärischen Rückschritte in der Ukraine einzugestehen. Es sei „töricht“, die miese Lage an der Front länger zu beschönigen, zitierte der BR das kremlnahe Portal VN-News.
So wurde die Annexions-Show am Freitag (Putin: „Sie werden unsere Bürger für immer“) von Meldungen überschattet, dass russische Truppen in der strategisch wichtigen Stadt Lyman im Gebiet Donezk eingekesselt seien. Es drohe „das Schicksal von Balaklija“, warnte der russisch-nationalistische Militärblog Rybar. Der Kreml musste einräumen, dass die „genauen Grenzen“ der annektierten Gebiete in den Regionen Cherson und Saporischschja noch zu „klären“ seien.
Mit der Rückeroberung von Balaklija hatten ukrainische Truppen eine Großoffensive im Gebiet Charkiw begonnen, infolge derer Kiew fast das ganze Gebiet wieder unter seine Kontrolle brachte und russische Truppen zum hastigen Rückzug zwang.
Putin versucht, den Bürger-Zorn im Zusammenhang mit der Teilmobilmachung auf untere Ebenen zu lenken, indem er „Fehler“ der Kreiswehrersatzämter bei den Einberufungen anprangerte. Wer irrtümlich an die Front geschickt worden sei, müsse nach Hause zurückkehren. Das gelte auch für Väter kinderreicher Familien.
Kreml-Kenner befürchten, dass die offensichtliche Panik im Kreml den Krieg nur noch brutaler machen wird. Die Ex-BBC-Russlandkorrespondentin Farida Rustamova zitierte einen Insider mit den Worten: „Putin kann nicht verlieren. Er setzt immer auf Eskalation – bis hin zum Einsatz von Nuklearwaffen.“
Derartige Ängste versuchte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Freitag zu zerstreuen. Auf den möglichen Einsatz von Atomwaffen angesprochen, sagte Peskow, man solle die russische Militärdoktrin genauer lesen. In der steht, dass ein Atomwaffeneinsatz möglich ist, wenn durch einen Angriff mit konventionellen Waffen „die Existenz Russlands selbst“ auf dem Spiel steht.
Am Freitag zeigte sich aber auch, dass der Krieg jetzt wohl in eine noch blutigere Phase tritt: Bei einem Angriff auf Zivilisten in der Region Saporischschja im Süden der Ukraine sind nach ukrainischen Angaben mindestens 23 Menschen getötet worden. Kiew und Moskau beschuldigten sich gegenseitig, für den Angriff nahe einem Kontrollpunkt zwischen dem ukrainisch kontrollierten und dem russisch besetzten Teil der Region.