Brasilien: Dämpfer für den Rückkehrer

von Redaktion

VON MARTINA FARMBAUER UND DENIS DÜTTMANN

São Bernardo do Campo – Nach seiner Stimmabgabe in São Bernardo do Campo, wo er als Gewerkschaftsführer einst seine politische Karriere begann, küsst Lula den Wahlzettel. „Vor vier Jahren war ich am Wahltag gefangen. Nun bin ich in Freiheit, wähle und habe die Möglichkeit, wieder Präsident dieses Landes zu werden“, sagt der brasilianische Ex-Präsident. Der Triumphzug, auf den alle Umfragen hingedeutet hatten, bleibt der so populären wie umstrittenen Ikone der Linken aber verwehrt. Der von vielen schon abgeschriebene Amtsinhaber Jair Bolsonaro erweist sich als überraschend starker Gegner.

Nur knapp gewinnt Luiz Inácio Lula da Silva am Sonntag die erste Runde der Präsidentenwahl in Brasilien. Der frühere Staatschef (2003-2010) kommt auf 48,28 Prozent, Bolsonaro erhält 43,32. Beide müssen nun am 30. Oktober in die Stichwahl. In Umfragen hatte Lula zuletzt zweistellig vorn gelegen. Nach Einschätzung von Experten bekannten sich viele Befragte nicht zu ihren tatsächlichen Favoriten oder entschieden sich spontan. „Ich habe immer daran geglaubt, dass wir diese Wahl gewinnen werden. Das ist für uns nur eine Verlängerung“, sagt Lula am Sonntag. Trotz des Rückschlags im ersten Wahlgang ist sein Comeback eine erstaunliche Wendung. Vor vier Jahren saß er noch wegen Korruption und Geldwäsche verurteilt hinter Gittern. Auch damals führte er in den Umfragen, konnte wegen seiner Haftstrafe aber nicht zur Wahl antreten. Später wurde das Urteil aus formalen Gründen kassiert. Lula kam frei und startete im Rentenalter noch einmal durch.

„Lula ist ein Phänomen“, sagt Luiz Antonio Carvalho, Weggefährte der ersten Stunde bei der Arbeiterpartei PT. „Kaum jemand kennt das Leben in Brasilien so wie er.“ Der heute 76-Jährige war erst Schuhputzer, dann Gewerkschaftsführer und schaffte es schließlich in den Präsidentenpalast. Während seiner Amtszeit von 2003 bis 2010 modernisierte der „Präsident der Armen“ die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas und verbesserte die Lebensbedingungen von Millionen mit dem Programm „Fome Zero“ (Null Hunger) und der Familiensozialhilfe.

Viele seiner Anhänger verbinden Lula noch mit diesen goldenen Zeiten Brasiliens. „Im Wahlkampf hat er vor allem auf Nostalgie gesetzt“, sagt der Politikwissenschaftler Mauricio Santoro von der Universität Rio de Janeiro. Der charismatische Politiker galt lange als Lichtgestalt der lateinamerikanischen Linken. Allerdings blühte während seiner Regierungszeit auch die Korruption. In der Mittel- und Oberschicht herrscht Misstrauen, weil sich Linke in den Boomjahren die Taschen füllten.

Die Wahl hat das Land extrem polarisiert, aus politischen Gegnern wurden erbitterte Feinde. Lula nannte Bolsonaro wegen dessen zögerlicher Corona-Politik einen Völkermörder, Bolsonaro schimpfte seinen Kontrahenten nach dessen Verurteilung wegen Korruption einen Dieb. In den vergangenen Monaten wurden mindestens drei Lula-Anhänger von mutmaßlichen Bolsonaro-Fans getötet. Die Unterstützer des Amtsinhabers forderten bereits vor der Wahl immer wieder unverhohlen einen Militärputsch gegen das Parlament und die Justiz.

„Die Mehrheit der Gesellschaft will keine Konfrontation, sie will Frieden“, sagt Lula am Sonntag nach der Stimmabgabe. Um in der Stichwahl gegen Bolsonaro zu bestehen, muss er nun das Vertrauen der Unentschiedenen in der Mitte zurückerlangen. Als großer Umarmer setzt er auf ein breites Bündnis gegen den rechten Scharfmacher Bolsonaro. Mit seinem früheren Kontrahenten, dem moderaten Gerardo Alckmin, als Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten hat Lula einen Vertreter des bürgerlichen Lagers ins Boot geholt.

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