Wie groß ist die Atom-Gefahr?

von Redaktion

München – Angesichts der zunehmend unklaren Lage auf den Schlachtfeldern in der Ukraine werden die Töne in mehreren Hauptstädten schriller. Die Möglichkeit eines Atomschlags wird wieder ernsthaft diskutiert. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte, einen russischen Atomwaffeneinsatz unmöglich zu machen. Die von ihm dabei erwähnten „Präventivschläge“ relativierte Kiew zwar kurz darauf wieder. Moskau reagierte dennoch heftig und sprach von einem Aufruf zum Dritten Weltkrieg. US-Präsident Joe Biden warnt vor einem „Armageddon“. Doch wie groß ist die Gefahr wirklich? Wir klären ein paar wichtige Fragen:

Was sind die nuklearen Optionen Russlands?

Russland hat sowohl strategische als auch taktische Atomwaffen. Strategische Atomwaffen könnten wohl nur zum Einsatz kommen, wenn sich der Krieg in der Ukraine zu einer vollwertigen kriegerischen Auseinandersetzung Russlands mit der Nato ausweiten würde. Taktische Atomwaffen hingegen haben kleinere Sprengköpfe und könnten daher von Russland theoretisch für einen begrenzten Einsatz in der Ukraine eingesetzt werden. Aber auch hier wäre das Risiko wegen der Verstrahlung großer Gebiete gewaltig.

Was besagt Russlands Atomdoktrin?

Die Atomdoktrin besagt, dass Moskau Atomwaffen nur als Antwort in zwei Fällen verwenden darf: entweder bei einem atomaren Angriff auf Russland oder bei einem Angriff auf Russland mit konventionellen Waffen, der die Existenz des Landes selbst gefährdet. Der zweite Punkt ist auslegungsfähig: Ist die ukrainische Rückeroberung der von Russland annektierten Gebiete aus Moskauer Sicht schon eine Gefährdung der Existenz des Landes? Kremlsprecher Dmitri Peskow hat zuletzt angedeutet, dass dies nicht der Fall sei.

Für wie wahrscheinlich halten Experten einen solchen Schlag?

Die meisten Experten halten einen Atomschlag für unwahrscheinlich. Technisch sind die russischen Atomstreitkräfte zumindest auf dem Papier zwar dafür ausgerüstet – es gibt geschätzt rund 6000 taktische Atomsprengköpfe und mehr als 1000 strategische. Doch die Folgen einer solchen Aktion wären auch für Russland selbst ungewiss. Zugleich ist unklar, welche militärischen Ziele damit überhaupt erreicht werden können. Ukrainische Militäreinheiten sind nahe der Front, Moskau würde also auch die eigenen Truppen gefährden. Der Einsatz würde zudem das Territorium verseuchen, das Russland beansprucht.

Wie sieht das die Ukraine?

In der Ukraine wird die Gefahr russischer Atomschläge unterschiedlich bewertet: Präsident Selenskyj sagte, Moskaus Atomdrohungen seien ernst zu nehmen. Verteidigungsminister Olexij Resnikow sagte neulich bei einem Treffen mit westlichen Partnern: „Hört auf, Russland zu fürchten. Das ist nicht die zweitbeste Armee der Welt, das sind Bettler, Plünderer und Vergewaltiger.“

Wie würde der Westen reagieren?

Um das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes für Putin unkalkulierbar zu machen, äußern sich die Verantwortlichen in Nato- und EU-Ländern öffentlich nicht detailliert zu solchen Fragen. Klar ist, dass die Reaktion am Ende davon abhängt, was Russland genau tut. Für den Fall eines russischen Atomwaffenangriffs auf Großstädte wie Kiew gilt nicht einmal ein direktes Eingreifen der Nato als ausgeschlossen. Eine Option wären nach Angaben aus Bündniskreisen auch massive Cyberangriffe.

Für wie realistisch hält die Nato einen russischen Atomwaffeneinsatz?

In der Nato wird die Ansicht vertreten, dass der Einsatz von Atomwaffen für Russland militärisch keinen Sinn ergeben würde – vor allem wegen der unkalkulierbaren Folgen. So wird auch darauf verwiesen, dass die Russen im Fall eines offensiven Atomwaffeneinsatzes fürchten müssten, dass sich auch Länder wie China und Indien klar gegen sie stellen.

Wann standen sich die USA und Russland letztmals atomar gegenüber?

Vor 60 Jahren – im Oktober 1962 – drohte nach der Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba eine atomare Eskalation im Kalten Krieg der damaligen Supermächte.

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