Rom – Es war zweifellos ein besonderer Tag in der italienischen Politik. Liliana Segre, Senatorin auf Lebenszeit und Überlebende des Holocaust, eröffnete als Alterspräsidentin die 19. Legislaturperiode. 66 Senatorinnen und Senatoren der rechtsradikalen Brüder Italiens saßen ihr gegenüber. Sie sind mit der Parlamentswahl in die hohe Kammer eingezogen, einige von ihnen nostalgische Verehrer des faschistischen Diktators Benito Mussolini.
Der Senat wählte am Mittag den 75 Jahre alten Ignazio La Russa von der rechtsradikalen Partei Brüder Italiens im ersten Wahlgang zum Präsidenten der hohen Kammer. Der Senatspräsident ist nach dem Staatspräsidenten das zweithöchste Staatsamt in Italien. Die Legislaturperiode hat damit begonnen. Wenn auch der Vorsitzende des Abgeordnetenhauses bestimmt ist, kann Staatspräsident Sergio Mattarella mit den Konsultationen beginnen und anschließend ein Mandat zur Regierungsbildung erteilen. Höchstwahrscheinlich bekommt Wahlsiegerin Giorgia Meloni kommende Woche den Auftrag, die Vorsitzende der Brüder Italiens. Die Brüder Italiens stellen die größte Fraktion in beiden Kammern, 26 Prozent der Stimmen holte die Partei bei der Wahl.
Im Senat hielt die 92-jährige Segre eine Rede, in der sie auf die historischen Parallelen zu sprechen kam. „Heute bin ich besonders bewegt von der Rolle, die das Schicksal für mich bereithält“, sagte die Mailänderin, die im Alter von 14 Jahren aus dem KZ Auschwitz-Birkenau befreit wurde. „In diesem Monat Oktober“, fügte Segre hinzu, „der den hundertsten Jahrestag des Marsches auf Rom markiert, mit dem die faschistische Diktatur begann, fällt es mir zu, vorübergehend die Präsidentschaft dieses Tempels der Demokratie, der der Senat der Republik ist, zu übernehmen.“
Der Marsch auf Rom im Oktober 1922 gilt als Moment der Machtergreifung der Faschisten in Italien. Deren Rassegesetze von 1938 hatten zur Folge, dass die aus einer jüdischen Familie stammende Segre der Grundschule verwiesen wurde. Die italienischen Faschisten wirkten am von Nazideutschland konzipierten Holocaust mit, Segre wurde mit ihrem Vater und ihren Großeltern nach Auschwitz deportiert. Im Gegensatz zu ihrer Familie, die ermordet wurde, kam nur sie, als eines der wenigen aus Italien deportierten Kinder, lebend zurück. Ihre Rede im Senat wurde mit stehenden Ovationen beklatscht, auch die Parlamentarier der postfaschistischen Brüder Italiens klatschten.
Dass die Alterspräsidentin ihr für wenige Stunden ausgeübtes Amt gegen Mittag einem früheren Neofaschisten übergeben musste, war eine weitere Pointe des Tages. Der Senat wählte den früheren Verteidigungsminister Ignazio La Russa zum neuen Vorsitzenden. Bei den Brüdern Italiens gilt die Sprachregelung, der Faschismus gehöre der Vergangenheit an, Mussolini habe mit den Rassegesetzen und dem Kriegseintritt Fehler begangen. Das hindert La Russa aber nicht, zuhause Mussolini-Büsten stehen zu haben, die er einst stolz im TV zeigte. Den römischen Gruß, die italienische Form des Hitlergrußes, schlug La Russa während der Covid-Pandemie als Begrüßung vor.
JULIUS MÜLLER-MEININGEN