Welterklärer mit Machtanspruch

von Redaktion

VON MARTINA HEROG UND ANNE-BEATRICE CLASMANN

Bonn – Mangelndes Selbstbewusstsein ist kein Problem der Grünen. „Wir tragen diesen Staat, wir tragen diese Gesellschaft, wir tragen diese Demokratie“, ruft Parteichef Omid Nouripour beim Parteitag in Bonn in den Saal. Seine nächsten Worte von den Grünen als „Kraft, die den Karren zieht“, gehen fast unter im tosenden Applaus der rund 800 Delegierten.

Die Grünen zelebrieren bei ihrem ersten Parteitag seit Langem in voller Mannschaftsstärke die Lust an der Regierungsverantwortung. „Die Grundlage grüner Politik ist Gerechtigkeit, das Prinzip heißt Verantwortung.“ So oft nimmt Co-Parteichefin Ricarda Lang das V-Wort in den Mund, dass man kaum noch mitzählen kann. Das bringe zwar Anfeindungen mit sich, doch: „Wer sich in den Sturm stellt, der kann auch mal nass werden.“

Außenministerin Annalena Baerbock erzählt, sie habe neulich im niedersächsischen Wahlkampf eine Schutzweste tragen müssen – wie sonst in Mali und der Ukraine. Die ehemalige Co-Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament, Ska Keller, mahnt die Delegierten, die Grünen würden für ihre Arbeit oftmals auch angefeindet, deshalb: „Seid lieb zueinander!“

Samstagnacht ist Zeit dafür. Als Nouripour den Anzug gegen Jeans und Kapuzen-Pulli tauscht und im Foyer Hip-Hop auflegt, tobt das Parteivolk. Die bis auf wenige Ausnahmen geltende Maskenpflicht – keine offizielle Regel, aber Teil des Hygiene-Konzepts – interessiert zu später Stunde nicht mehr viele.

Am nächsten Morgen geht es dann um den Braunkohle-Abbau und die Zukunft der Gemeinde Lützerath, die wegen der Energiekrise weggebaggert werden soll – ein Vorstoß für ein vorläufiges Moratorium scheitert. Aktivistin Luisa Neubauer fordert bei ihrem Auftritt mehr Einsatz für den Klimaschutz. Die Partei lasse sich auf zu viele Kompromisse ein. Die Ablehnung von klimapolitischen Forderungen als unrealistisch wies Neubauer zurück. „Wenn hier irgendwas unrealistisch ist, dann, dass wir in irgendeiner Form von stabiler Demokratie, Ökonomie oder europäischer Friedensordnung leben, wenn uns die Lebensgrundlagen bei 2, 3, 4 Grad um die Ohren fliegen.“

Vor dem Einzug in die Ampel-Regierung haben die Grünen ihren Machtanspruch formuliert und dabei so staatstragend geklungen, als säßen sie längst an den Schaltstellen der Bundespolitik. Doch der grüne Anspruch reicht viel weiter: Die Partei will auch Welterklärer sein.

Ihrem Wirtschaftsminister Robert Habeck stärken die Grünen den Rücken im Atomstreit mit der FDP – und schränken ihn gleichzeitig ein: Einen begrenzten Weiterbetrieb zweier deutscher Atomkraftwerke bis 15. April genehmigt die Partei, der Beschaffung neuer Brennstäbe erteilt sie eine Absage. Die Redebeiträge machen deutlich: Letzteres stand für die Basis nie wirklich zur Debatte.

Mit großer Mehrheit billigen die Delegierten zudem einen Antrag zum sozialen Zusammenhalt. Darin wird betont, dass das neue Bürgergeld und die Erhöhung der Leistungen der Grundsicherung zwar richtig, aber nicht ausreichend seien – vor allem angesichts der aktuellen enormen Preissteigerungen.

Die Grünen hätten zugelegt bei Wahlen, auch weil sie den Menschen vertrauten, sagt Parteichef Nouripour. „Diese Demokratie ist robust.“ Es sei kein Naturgesetz, dass die AfD in den Parlamenten sitze. Als „fünfte Kolonne Moskaus“ bezeichnet Nouripour die Rechtspopulisten. „Ist das alles einfach?“, fragt er rhetorisch. „Nein. Aber wenn’s einfach wär, könnt’s auch Markus Söder.“

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