Schreckensmeldungen von Europas Außengrenzen sind längst traurige Normalität, doch die jüngsten Aufnahmen von 92 Flüchtlingen sind auf verstörende Weise einzigartig. Man sieht schmerzhaft viel auf den Bildern der Migranten, die am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros aufgegriffen wurden, ihrer Kleidung beraubt und auch jeder Würde. Die Verbreitung durch griechische Behörden, wegen ihrer Pushback-Praktiken selbst am Pranger, soll die ganze Skrupellosigkeit Ankaras illustrieren.
Man muss diese Zurschaustellung von Leid nicht gutheißen, dreister aber ist die Reaktion der Türkei, von wo die Menschen kamen und die nun von einer Inszenierung raunt. Fakt ist zwar, dass Ankara seit Jahren mit der Aufnahme von Millionen Flüchtlingen eine große Last schultert und der EU (für viel Geld) massiv hilft. Doch schon in der Vergangenheit hatte Erdogan keine Hemmungen, Flüchtlinge zu seinen Zwecken zu instrumentalisieren.
Diesmal ist das Signal besonders brachial, in doppelter Hinsicht. Außenpolitisch markiert der Fall ein weiteres Kapitel im Streit mit Athen, zudem sendet er Schockwellen nach Europa, das die nächste Flüchtlingskrise fürchtet und einen verlässlichen Partner bräuchte. Ebenso klar ist Erdogans Botschaft nach innen. Im Juni sind Präsidentschaftswahlen, in schwierigen Zeiten ist Migration ein zentrales Thema. Die Grenzen der Hilfsbereitschaft sind erreicht. Nicht nur in der Bevölkerung, auch an der Spitze.
Marc.Beyer@ovb.net