Kiew – Nach zahlreichen russischen Angriffen auf die Strom-Infrastruktur der Ukraine befindet sich das Land nach eigenen Angaben in einer bedenklichen Lage. „Die Lage ist jetzt im ganzen Land kritisch, weil unsere Regionen voneinander abhängen“, hieß es am Dienstag aus dem Präsidialamt in Kiew. Laut Staatschef Wolodymyr Selenskyj zerstörte Russland binnen einer Woche knapp ein Drittel der ukrainischen Elektrizitätswerke. Bereits am Montag hatte Russland wichtige Infrastruktur in drei ukrainischen Regionen angegriffen. Dabei setzte die russische Armee nach ukrainischen Angaben auch iranische Kamikaze-Drohnen ein.
Drohnen spielen seit Beginn des Ukraine-Krieges auf beiden Seiten eine wichtige Rolle. Die russische Industrie kann nach Einschätzung von Experten wegen der westlichen Sanktionen jedoch kaum noch Nachschub liefern. Moskau kauft die Waffen deshalb nun im Iran ein: Mohadscherr-6, eine Beobachtungs- und Angriffsdrohne, sowie Shahed-136, eine Kamikaze-Drohne mit einer Reichweite von bis zu 2500 Kilometern.
Vor allem die Kamikaze-Drohnen kamen zuletzt vermehrt bei russischen Angriffen auf Städte und auf die Energie-Infrastruktur der Ukraine zum Einsatz. Nach Angaben aus Kiew vom Dienstag waren zuletzt mehr als 1000 Orte in der Ukraine wegen der russischen Angriffe ohne Strom, viele dieser Attacken kamen von iranischen Drohnen. Die Schahed-136 ist eine vergleichsweise günstige Kamikaze-Drohne, die programmiert werden kann, mit einer Ladung Sprengstoff zu GPS-Koordinatoren sehr niedrig zu fliegen.
Jean-Christophe Noël vom Französischen Institut für Internationale Beziehungen (Ifri) nennt die iranischen Drohnen „sehr effektiv“, wenn der Gegner nicht über die Mittel verfügt, um sich zu schützen oder sie abzuschießen. Und Vikram Mittal von der US-Militärakademie West Point erklärt, der Erfolg der Drohnen rühre daher, dass sie „eine neue Waffe auf dem Schlachtfeld“ seien. „Die Ukrainer werden Drohnen abschießen oder erbeuten, sie auseinandernehmen und Systeme gegen sie entwickeln“, fügt er hinzu. Das könne allerdings Monate dauern.
Nach Einschätzung von Pierre Grasser vom Sirice-Institut der Pariser Sorbonne-Universität sind die iranischen Kamikaze-Drohnen für Moskau auch eine Möglichkeit, Geld zu sparen, weil dadurch weniger Marschflugkörper eingesetzt werden müssten, die „1,5 bis zwei Millionen Dollar“ pro Stück kosten würden. Allerdings könnten die Drohnen nur unbewegliche Ziele treffen, ergänzt Grasser, der den Kauf iranischer Drohnen durch Russland zudem auch für „ein Eingeständnis industriellen Versagens“ hält.
Beim Osteuropa-Hilfswerk Renovabis in Freising ist man schockiert über den russischen Einsatz der Kamikaze-Drohnen. Russland ziele auf die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschen in der Ukraine. Zudem rechnet Pfarrer Professor Thomas Schwartz, Hauptgeschäftsführer von Renovabis, mit einer steigenden Zahl an Flüchtlingen aus der Ukraine. „Wenn es in der kommenden Winterzeit in weiten Teilen der Ukraine keine zuverlässige Versorgung mit Strom und Wärme gibt, werden auch die Flüchtlingszahlen wieder deutlich steigen“, glaubt er.
Die Ukraine eigenen Angaben zufolge nun auch Israel um Luftabwehrsysteme bitten. Israel hält sich in Russlands Angriffskrieg bisher weitgehend zurück, um seine Beziehungen zu Moskau nicht zu gefährden.