München – Die Rolle des Altkanzlers gefiel ihm offenbar ganz gut. In den letzten Tagen gab Sebastian Kurz viele Interviews, sprach über Geopolitik, sein Privatleben, sein neues Buch. Er fühle sich wohl, habe Blut geleckt am Unternehmertum, sagte er. Ob er sich wieder in der Politik sehe? Eher nicht. Und die Vorwürfe, die ihn vor einem Jahr sein Amt kosteten? Beschäftigten ihn nicht mehr so.
Letzteres hat sich abrupt geändert. Der Grund: eine 454 Seiten umfassende Aussage, die der frühere Kurz-Vertraute Thomas Schmid der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft gegeben hat. Was er zu Protokoll gibt, belastet Prominente aus Politik, Wirtschaft, Medien. Und es dürfte dazu führen, dass dem Ex-Wunderkind Kurz der Prozess gemacht wird.
15 Vernehmungstage lang packte Schmid im Gespräch mit den Ermittlern aus, stets heimlich und angeblich, um reinen Tisch zu machen. Der ehemalige Finanz-Spitzenbeamte, der Kurz einst bei dessen rasantem Aufstieg half, ist eine Schlüsselfigur in der Korruptionsaffäre um den früheren Kanzler. Er belastet auch sich selbst und hofft auf einen Kronzeugenstatus.
Im Kern geht es um die so genannte Inseratenaffäre und etwas, das sie in Wien „Beinschab-Österreich-Tool“ getauft haben. Kurz selbst habe es bei ihm in Auftrag gegeben, sagt Schmid. Demnach gab das damals ÖVP-geführte Finanzministerium bei der Meinungsforscherin Sabine Beinschab frisierte Umfragen in Auftrag, die Zeitung „Österreich“ veröffentlichte sie. Im Gegenzug schaltete das Ministerium Inserate. So habe Kurz die öffentliche Meinung zu seinen Gunsten manipuliert.
Bezahlt wurde all das laut Schmid mit Steuergeld aus dem Etat des Finanzministeriums (BMF). Außerdem hätten ihn Kurz’ engste Mitarbeiter gedrängt, den Wahlkampf der ÖVP aus BMF-Mitteln zu unterstützen. Das Magazin „Falter“ zitiert ihn: „Ich habe die ÖVP und Kurz aus dem BMF heraus gefördert, die Ressourcen des BMF genutzt, um das Fortkommen der ÖVP unter Sebastian Kurz zu unterstützen.“
Die Ermittler kamen bei den Nachforschungen zur Ibiza-Affäre um Ex-Vize-Kanzler Heinz-Christian Strache auf Schmid. Bei ihm fanden sie hunderttausende Chat-Nachrichten, die als Grundlage der jetzigen Ermittlungen dienen. Kurz, sagt der Zeuge, habe gefordert, ihm die Sicherungskopien der Texte auszuhändigen. „Er meinte, er müsse sich um diese Chats jetzt selber kümmern, weil sonst die ÖVP und das ganze Land den Bach hinuntergehen.“
Schmid, der als Generalsekretär mehrerer Finanzminister arbeitete und die Staatsholding ÖBAG managte, profitierte lange von seiner Verbindung zu Kurz, sie machten miteinander Karriere, standen sich nahe. „Ich liebe meinen Kanzler“, schrieb Schmid einmal an Kurz. Der Bruch kam im Oktober 2021. Kurz habe ihn angerufen und ihn zum Sündenbock für alles machen wollen, behauptet Schmid. Er habe abgelehnt.
Der Ex-Kanzler wehrt sich am Mittwoch via Facebook. Die Aussage überrasche ihn nicht, schreibt Kurz. Indem er andere beschuldige, versuche Schmid, den Kronzeugenstatus zu erlangen, „um selber straffrei auszugehen“. Schmid selbst aber gebe zu, in seinen Chats Menschen belogen zu haben, das treffe auch jetzt zu. Er freue sich, „zu beweisen, dass diese Anschuldigungen falsch sind“.
Der Ex-Kanzler steht nicht allein in der Schusslinie. Mit seinen Aussagen belastet der Zeuge auch andere ÖVP-Größen wie den jetzigen Parlamentspräsidenten Wolfgang Sobotka. Der soll Schmid gedrängt haben, Steuerverfahren gegen ÖVP-nahe Vereine zu stoppen. Sobotka nannte die Vorwürfe „haltlos“. Auch Immobilienunternehmer René Benko wird belastet. Er soll Schmid einen einträglichen Job angeboten haben, wenn ihm im Gegenzug Steuererleichterungen winken. Benko besitzt auch in München eine ganze Reihe von Immobilien.
Die Vorwürfe gegen Kurz wiegen schwer, das mögliche Strafmaß liegt dem „Standard“ zufolge bei ein bis zehn Jahren. Das politische Wien ist erschüttert. ÖVP-Kanzler Karl Nehammer forderte „volle Aufklärung“, die Grünen-Abgeordnete Nina Tomaselli sagte, die ganze Sache belaste die schwarz-grüne Koalition.
Aber was, wenn Kurz noch ein Ass im Ärmel hat? Sein Anwalt Werner Suppan teilte gestern mit, er habe den Behörden die Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen Kurz und Schmid übergeben. Sie sei eine „Bombe für den derzeitigen Ermittlungsstand“. Das Transkript liegt der Agentur APA vor. Kurz fragt unter anderem, wie man darauf komme, er habe das „Tool“ beauftragt. Schmid antwortet: „Die bauen sich ihre eigenen Geschichten zusammen.“
Alles Lüge, sagt Sebastian Kurz