„Moment der Wahrheit“

von Redaktion

Nach monatelangen Debatten hofft die EU im Kampf gegen hohe Gaspreise auf den Durchbruch

Brüssel – Olaf Scholz kann sich noch gut an frühere EU-Treffen erinnern, auf denen ähnliche dicke Bretter gebohrt werden mussten. Seine Rolle war damals noch eine andere, aber auch als Finanzminister war er maßgeblich an Projekten beteiligt, die viel kosteten und allen zugutekamen. Aus gegebenem Anlass erinnerte er deshalb gestern an den Corona-Wiederaufbaufonds. Damals wie heute sei für ihn „ganz klar“, dass Deutschland „sehr solidarisch“ handle.

Gestern Nachmittag kamen die Staats und Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel zusammen, um über ein gemeinsames Vorgehen gegen die hohen Gaspreise zu beraten. Ein langer, mühsamer Prozess. Nach monatelangen ergebnislosen Debatten sprach EU-Ratspräsident Charles Michel von einem „Moment der Wahrheit“, der nun anstehe. Er zeigte sich überzeugt, dass eine Einigung möglich sei.

Die Positionen liegen allerdings weit auseinander. Speziell Olaf Scholz muss viel Kritik einstecken. Die solidarische Haltung, die er für seine Regierung reklamiert, wird in weiten Teilen Europas stark angezweifelt. Zu vehement wehrt sich der Kanzler gegen die Vorschläge zahlreicher EU-Staaten zur Gaspreisbegrenzung. Gestern erteilte er einem europaweiten Höchstpreis für Gas erneut eine Absage. Die EU müsse sich auf Konzepte einigen, die auch funktionieren, sagte er vor Beginn des Gipfels: „Niemand möchte Beschlüsse fassen, wo es hinterher theoretisch gut ist, aber kein Gas gibt.“

Bereits am Vormittag hatte Scholz bei seiner Regierungserklärung im Bundestag vor den Nachteilen einer europaweiten Preisbegrenzung gewarnt und ein konkretes Szenario beschrieben. „Ein politisch gesetzter Preisdeckel birgt immer das Risiko, dass die Produzenten ihr Gas dann anderswo verkaufen – und wir Europäer am Ende nicht mehr Gas bekommen, sondern weniger“, sagte er.

Scholz betonte, die EU müsse sich mit anderen Gaskonsumenten wie Japan und Korea eng abstimmen, „damit wir uns nicht gegenseitig Konkurrenz machen“. Zugleich müsse auch mit den Produzenten über einen angemessenen Preis gesprochen werden. „Ich bin überzeugt: Länder wie die USA, Kanada oder Norwegen, die gemeinsam mit uns solidarisch an der Seite der Ukraine stehen, haben ein Interesse daran, dass Energie in Europa nicht unbezahlbar wird“, sagte er.

Mehr als die Hälfte der EU-Staaten fordert einen Gaspreisdeckel beim Einkauf. Länder wie Deutschland und die Niederlande lehnen einen solchen Markteingriff ab. Anders als von Fürsprechern wie Belgien, Italien und Frankreich gefordert, hatte die EU-Kommission am Dienstag keinen konkreten Vorschlag für einen Höchstpreis gemacht.

Neben Frankreich (siehe Text oben) rief auch eine Reihe anderer Länder Scholz in Brüssel zum Einlenken auf. Europa funktioniere nicht ohne Kompromisse, sagte die estnische Regierungschefin Kaja Kallas. Sie hoffe, „dass auch Deutschland diesen Sinn für Kompromisse findet“. Der lettische Regierungschef Krisjanis Karins kritisierte, Länder mit einem größeren Budget wie Deutschland könnten ihre Haushalte gegen die hohen Gaspreise stärker unterstützen als kleinere: „Wir müssen diese fast schon protektionistischen Tendenzen überwinden.“  afp/mb

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