München – Es war ein erstaunliches Interview, das der neue Oberbefehlshaber der Kreml-Truppen in der Ukraine, Sergej Surowikin, Anfang der Woche gab. Nicht nur, weil sich überhaupt mal ein russischer Militär öffentlich zum Krieg äußerte; sondern auch, weil er ungewohnt offen über die Situation an der Front sprach. Vor allem in Cherson sei die Lage schwierig, erklärte er. Es stünden „schwierige Entscheidungen“ an.
In so einen Satz kann man viel hineinlesen. Einige verstanden das so, als stelle Surowikin einen Rückzug aus dem Gebiet in den Raum. Tatsächlich begann die Besatzungsverwaltung kurz darauf, die Stadt zu verlassen. Vielleicht aber sprach der General, der für eine rücksichtslose Kriegsführung bekannt ist, noch von etwas ganz anderem.
Die Ukraine ist gewillt, die besetzte Stadt Cherson zurückzuerobern – und rechnet offenbar mit größeren Vergeltungsaktionen der Russen. In einer Videoansprache warnte Präsident Wolodymyr Selenskyj nun davor, die russische Seite habe einen großen Staudamm in der Region Cherson vermint und wolle ihn zerstören. Ziel sei es, durch die entstehende Flutwelle die ukrainische Offensive zu stoppen. Er sprach von einer „Katastrophe großen Ausmaßes“.
Bei dem Bauwerk handelt es sich um den Staudamm des Wasserkraftwerks Kachowka, das am Fluss Dnipro liegt. Er speichere 18 Millionen Kubikmeter Wasser, sagte Selenskyj. Eine Sprengung hätte demnach schlimme Folgen: Ein Großteil der Südukraine und die russisch annektierte Krim wären von der Wasserversorgung abgeschnitten. Auch das Atomkraftwerk Saporischschja wäre laut Selenskyj betroffen, es bekäme kein Kühlwasser mehr. Vor allem würden 80 Ortschaften überflutet, inklusive Cherson, das 60 Kilometer südwestlich des Kraftwerks liegt. Von der zu befürchtenden Flutwelle wären Hunderttausende betroffen.
Noch herrscht relative Ruhe in Cherson. Ob der Vorwurf stimmt, ist unklar, überraschen würde es aber nicht. General Surowikin ist dafür bekannt, die Bevölkerung maximal zu drangsalieren. Die Raketen und Drohnen, die auch am Freitag ukrainische Städte ins Visier nahmen, gehen auf sein Konto. Eine bewusst ausgelöste Flut würde durchaus ins Bild passen.
In Kiew wächst zugleich die Sorge, Russlands Präsident Wladimir Putin könnte eine Front im Norden der Ukraine eröffnen. In Belarus sammeln sich zurzeit russische Soldaten mit gepanzerten Fahrzeugen. Das ukrainische Militär sah sich am Freitag zu einem Aufruf an das mit Moskau verbündete Nachbarland genötigt. Die Führung in Minsk wolle das belarussische Volk in einen „schmutzigen Krieg“ hineinziehen. Man fordere daher alle Bürger auf, „die Befehle ihrer Führung, in den Krieg gegen die Ukraine einzutreten, nicht zu befolgen“.
Ein anderes Land mischt offenbar längt im Krieg mit: der Iran. Die USA werfen dem iranischen Militär vor, Russland aktiv beim Einsatz von Drohnen unterstützt zu haben. „Unserer Einschätzung nach waren iranische Militärs auf der Krim vor Ort und haben Russland bei diesen Operationen unterstützt“, sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates der USA, John Kirby. Die Iraner würden Russen ausbilden und technisch unterstützen, während Russen die Drohnen steuerten. „Teheran ist jetzt direkt vor Ort involviert“, sagte Kirby. Es liefere Waffen, die „Zivilisten und zivile Infrastruktur in der Ukraine“ träfen.
Das bezieht sich vor allem auf die Kampfdrohne „Schahed-136“, die nach Einschätzung von Experten im Krieg zum Einsatz kommt. Russland und der Iran bestreiten das nach wie vor – allerdings verplapperte sich zuletzt ein russischer Militärexperte vor laufenden Kameras. Wohl in der Annahme, sein Mikro sei noch aus, bat der Militär-Analyst Ruslan Pukhov die TV-Moderatorin, nicht zu viel zu den iranischen Drohnen zu fragen. „Wir alle wissen, dass es iranische sind“, sagte er. „Aber die Behörden habe das nicht zugegeben.“ mit afp