Der Triumph des Tabu-Brechers

von Redaktion

In Tübingen gewinnt der Ex-Grüne Boris Palmer im ersten Wahlgang – und sucht wieder Anschluss

Tübingen/München – Kurz vor halb acht Uhr abends gibt es Jubelrufe auf dem Marktplatz von Tübingen. „Boris, Boris“, skandieren die Anhänger, als Boris Palmer aus dem Rathaus tritt. Er hat es geschafft, im ersten Wahlgang sogar. Deutschlands wohl umtriebigster, aber auch umstrittenster Bürgermeister hat gegen den Widerstand der eigenen grünen Partei seinen Posten verteidigt. 52,4 Prozent, das vorläufige Ergebnis, sind das Ticket für die nächsten Jahre als Stadt-Chef.

Palmer wirkt erleichtert, aber nicht ekstatisch, als er vor seine Bürger tritt. „Ich hab’ den Jubel gehört, aber auch die Buh-Rufe“, sagt er. Und wendet sich sofort an jene, die ihn nicht gewählt haben. Er fordert die Stadt auf, den Streit einzustellen und zusammenzustehen. „Das Wesen der Demokratie ist, dass alle das Ergebnis akzeptieren, ob es einem gefallen hat oder nicht.“

64 Prozent der 69 000 Stadtbürger sind zur Wahl gegangen, ein vergleichsweise hoher Anteil. Tübingen sei die „Hochburg der Demokratie“, verkündet Palmer deshalb. Es war allerdings eine Demokratie mit Prozessen, die in ganz Deutschland für Schlagzeilen sorgten. Palmer und seine Grünen haben sich nämlich überworfen, auch wegen seiner kantigen, provokanten Art und den mitunter scharfen Thesen zur Migration. Er brach Tabus, gerne in bundesweiten Interviews und in den Talkshows. Die Grünen schickten deshalb nach schweren inneren Verwerfungen eine Gegenkandidatin ins Rennen.

Die Kommunalpolitikerin Ulrike Baumgärtner landet auf Platz zwei, holt immerhin 22 Prozent der Stimmen und gratuliert etwas verkniffen, man habe die Stadt mit diesem Angebot zumindest „politisiert“. Palmer addiert am Abend launig, somit komme „die grüne Volkspartei“ in Tübingen auf drei Viertel der Stimmen. „Für mich ist das ein Auftrag, die ökologische Transformation der Stadt voranzutreiben.“ Im Übrigen wolle er seinen Stil nicht ändern.

Und nun? Wieder Versöhnung mit den Grünen, oder doch der endgültige Bruch? Palmer, derzeit und bis Ende 2023 „ruhendes Mitglied“ der Grünen, sendet eher versöhnliche Signale. Er habe tagsüber Kontakt gehabt mit Vizekanzler Robert Habeck, sagt der 50-Jährige, und mit Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. „Mein Ziel, meine Absicht, mein Angebot ist, für meine Partei zu werben. Dafür möchte ich in Zukunft wieder stärker eintreten.“ Es müsse „kein ruhendes Grün bleiben“. Allerdings trübt die Hoffnung auf Harmonie, dass führende Unionspolitiker – darunter Ex-CDU-Chef Armin Laschet – Palmers Wahlsieg öffentlich beklatschen.

Palmer ist bereits seit 16 Jahren Stadtoberhaupt. Er hatte im Vorfeld erklärt, nicht mehr beim zweiten Wahlgang Mitte November antreten zu wollen, sollte er in der ersten Runde nicht vorne liegen – es war eine Alles-oder-nichts-Strategie. „Dann bin ich Pensionär, habe drei Kinder und setze mich bei schönem Wetter aufs Fahrrad“, hatte er angekündigt.

CHRISTIAN DEUTSCHLÄNDER

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