München – Die Wähler haben sich für ihn entschieden – bei den Grünen ist man sich noch nicht so sicher. Wie sehr Boris Palmer die eigene Partei in Wallung bringt, ließ sich gestern ganz gut bei Twitter ablesen. Da beschimpfte der Berliner Grünen-Abgeordnete Vasili Franco den Tübinger als „ersten AfD-Bürgermeister“ Deutschlands. Die schärfste Entgegnung kam vom Bundestagsabgeordneten Konstantin von Notz, ebenfalls Grüner: „So ein Bullshit, lieber Vasili! Meine Güte.“
Paradox, aber wahr: Offenbar schockiert Palmers Wiederwahl niemanden so sehr wie die eigene Partei. Vor allem Parteilinke hatten auf eine Niederlage ihres so erfolgreichen Kommunalpolitikers gehofft, die Grünen gingen sogar mit einer eigenen Kandidatin ins Rennen. Selbst die, die Palmer für provokant, aber tolerierbar halten, wären über ein Scheitern nicht traurig gewesen. In dem Fall hätte sich ein Problem von selbst erledigt.
Es kam anders: Palmer ist nun für weitere acht Jahre gewählt, mit absoluter Mehrheit (52,4 Prozent) gleich im ersten Wahlgang. Das gelingt nur wenigen. Entsprechend selbstbewusst tritt der Wahlsieger am Tag danach auf. „Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine“, sagt er am Montag. Überhaupt sei die negative Bewertung des Wortes Streit ein Fehler. „Ich finde, diese Partei sollte streiten.“
Nicht wenige dürften so einen Satz als bedrohlich empfinden, denn das, was Palmer unter Streit versteht, hat es in sich. Seine teils provokanten Aussagen – vor allem zur Migration – waren immer auch ein Stresstest für die Grünen. Viele werfen ihm offenen Rassismus vor, nach einer Äußerung über den schwarzen Fußballer Dennis Aogo war für sie die Schmerzgrenze erreicht. Es folgte ein Ausschlussverfahren, Palmers Parteimitgliedschaft ruht bis Ende 2023. Ein Kompromiss, um die Spannung zwischen ihm und der Partei nicht weiter eskalieren zu lassen.
Nun macht Palmer, der als unabhängiger Kandidat siegte, den Grünen wieder Avancen. Bei Facebook schreibt er am Montag, er wolle „von ruhendem Grün wieder zu aktivem Grün wechseln“. Ob es Chancen auf eine Versöhnung gibt? Zumindest gratulieren ihm prominente Grüne: Cem Özdemir, Robert Habeck, Winfried Kretschmann. Auch er habe dem Sieger gratuliert, sagt Parteichef Omid Nouripour. Diesmal sei Palmer ja „mit leiseren Tönen“ erfolgreich gewesen. „Vielleicht gibt es ja eine Lehre, die man daraus ziehen kann.“
Es sind kleine Schritte der Annäherung, aber sie sind sichtbar. Palmer reicht seinen Kritikern offen die Hand. „Die Zeiten, die vor uns liegen, sind schwer genug“, erklärt er. „Wir können sie nur bewältigen, wenn wir im Innern stark und einig sind.“ Er jedenfalls wolle seinen Beitrag dazu leisten.
Im kommenden Jahr wollen sich die Streitparteien zusammensetzen, das ist längst vereinbart. Manche bei den Grünen meinen ohnehin, man hätte sich das Ausschlussverfahren, die grüne Gegenkandidatur, die ganze jetzige Blamage sparen können. „Wer soll am Ende was dabei gewinnen?“, fragte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) einmal öffentlich im Laufe des Wahlkampfes. So richtig beantworten konnte ihm das niemand.
Er habe nie versucht, es allen recht zu machen, schreibt Palmer, er mache Politik mit offenem Visier. Dann zitiert er Rezzo Schlauch: So werde man zwar „nicht zum Oberbürgermeister der Herzen, aber zum Oberbürgermeister der Hirne“. MARCUS MÄCKLER