„Da musste mal jemand Neues ran“

von Redaktion

VON MIKE SCHIER

München – Vor einem Monat machte die Bundeskanzlerin a. D. mal wieder eine Dienstreise. In Lissabon wurde sie mit dem portugiesischen Gulbenkian-Preis ausgezeichnet – und gab eine Art Pressekonferenz. Natürlich wurde sie auch gefragt, ob sie manche Entscheidung zur Energieabhängigkeit von Russland bereue – schließlich ist die Nachfolgeregierung seit Monaten damit beschäftigt, die fatalen Folgen für Deutschland zu reparieren. „Aus der damaligen Perspektive war es sehr rational und nachvollziehbar“, auch Gas aus Russland zu beziehen, antwortete Merkel gewohnt nüchtern. Es sei billiger gewesen als Gas aus anderen Gegenden. „Insofern bereue ich Entscheidungen überhaupt nicht.“

Das Merkel-Bild der Deutschen hat im vergangen Jahr gehörige Kratzer bekommen. Natürlich gab es schon immer jene, die – oft wegen ihrer Flüchtlingspolitik – mit ihr fremdelten. Doch zugleich machten viele im Herbst 2022 bei Olaf Scholz ihr Kreuzchen, weil sie sich gerade von ihm Kontinuität im nüchternen Regierungshandeln versprachen. Heute wird Merkel skeptischer gesehen. Nur sie selbst scheint sich nicht allzu kritisch zu hinterfragen. Zumindest nicht öffentlich.

Diesen Eindruck bestätigt auch die offensiv beworbene Titelgeschichte des neuen „Spiegel“. Der Journalist Alexander Osang hat die Altkanzlerin ein Jahr lang immer wieder gesprochen und begleitet. Herausgekommen ist ein ziemlich freundliches Porträt über eine Frau im politischen Abklingbecken, die mit ihrer jahrzehntelangen Vertrauten Beate Baumann an einem Buch schreibt. Merkel mag erst vor einem Jahr das Kanzleramt verlassen haben – aber hier klingt vieles nach Geschichtsbuch. Es geht auch um die Queen, Churchill, Shakespeare. Und sie.

Wirklich neue Erkenntnisse liefert das alles nur vereinzelt. Ganz am Ende ihrer Amtszeit – das war gut drei Monate vor dem Einmarsch in der Ukraine – habe Merkel noch einmal versucht, neue Gesprächsformate mit Russland zu entwickeln. Aber irgendwie wollte niemand mehr darauf eingehen. „Ich hatte nicht mehr die Kraft, mich durchzusetzen, weil ja alle wussten: Die ist im Herbst weg.“ Und während ihres Abschiedsbesuchs beim Machtmenschen Putin sei ihr endgültig klar geworden: „Machtpolitisch bist du durch.“

Im „Spiegel“ darf allerdings ihr ehemaliger Außenminister Sigmar Gabriel sagen: Er glaube, dass Putin die Ukraine nicht angegriffen hätte, wenn Angela Merkel noch Kanzlerin gewesen wäre. Putin habe unglaublichen Respekt vor ihr gehabt, sagt Gabriel. Mit schönen Grüßen an den Genossen Olaf Scholz.

Was lernen wir? Merkel liest viel. Und schreibt nun auch. Die Naturwissenschaftlerin als Bildungsbürgerin. Osang beschreibt, wie die Altkanzlerin gerade in der Toskana gewesen sei („um die Renaissance zu studieren“), als sie den Tweet des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk las, sie solle doch lieber die Massengräber Butschas besuchen. Merkel habe das Gefühl, eingreifen zu müssen – aber sie sei einfach schon zu lange raus. Seit dem 24. Februar sei zu viel passiert – in der Weltpolitik können ein paar Monate eine halbe Ewigkeit sein. Doch ganz ausschließen will sie eine Vermittlerrolle offenbar nicht. Osang schreibt: „Sie müsste von dort (der Ukraine) gebeten werden, sich an Verhandlungen zu beteiligen. Und dann müsste die Bundesregierung dem zustimmen. Es sind aber nur Gedankenspiele. Sie ist zu alldem nicht eingeladen worden.“

Doch wie eine Lösung des Schlamassels aussehen könnte, das mit dem russischen Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung jeden Tag schlimmer wird, bleibt bei der ehemaligen „Weltmoderatorin“, die jetzt „Wohnzimmerdiplomatin“ (Osang) ist, im Unklaren. Mit öffentlichen Ratschlägen an ihren Nachfolger hält sie sich ohnehin zurück. Merkels Blick ist auf die Vergangenheit gerichtet, was auch nicht verwundert, wenn jemand gerade seine politischen Memoiren schreibt. Alte Treffen werden neu durchlebt. Plötzlich geht es wieder um Gerhard Schröder oder George W. Bush.

Man erfährt, dass Merkel nicht nur viel liest, sondern auch gerne Netflix-Serien schaut. Dass sie sich im Sommer in Salzburg das Kreuzband gerissen hat. Und dass sie Redeangebote amerikanischer Agenturen für hunderttausende Dollar ausschlage. In Deutschland regen sich einige darüber auf, dass sie bei der Ausstattung ihres Büros zu großzügig gewesen sei. Osang nennt diese Leute „Erbsenzähler im Bundestag“ und erzählt, dass ein Barack Obama auch heute noch nicht Linie fliege – Angela Merkel dagegen schon.

In diesem Büro also verbringt Angela Merkel nun ihre Arbeitstage. Es ist natürlich kleiner als das im Bundestag, aber einige Elemente sind mit umgezogen – zum Beispiel das Adenauer-Bild, das schon damals über ihrem Schreibtisch hing. Es sei „wie eine Puppenstube, die man für Angela Merkel gebaut hat, damit sie sich nach den 16 Jahren im Kanzleramt nicht so fremd fühlt“, schreibt Osang. Lustig: Früher war dies ausgerechnet das Altkanzlerbüro von Helmut Kohl, von dem sie sich einst so spektakulär abgesetzt hatte. Und davor residierte hier die DDR-Volksbildungsministerin Margot Honecker. Es scheint so, als hätten sie in der Berliner Bundestagsverwaltung genau jenen Sinn für Ironie, den Merkel selbst eigentlich schätzt.

Hier arbeitet sie nun also. „Die erste Phase ist, Abstand zur täglichen Politik zu bekommen. Durch das Buchschreiben kommt eine neue Phase“, wird Merkel zitiert. Diese Phase zwei ist nun eingetreten. Ob sie es denn – nicht zuletzt wegen der dramatischen Entwicklung – bereut habe, sich aus der Politik zurückgezogen zu haben, wird die Altkanzlerin gefragt? „Nein“, sagt sie. „Da musste mal jemand Neues ran. Innenpolitisch war es überreif. Und außenpolitisch war ich zum Schluss auch bei so vielem, was wir wieder und wieder versucht haben, keinen Millimeter mehr weitergekommen.“

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