München – Der Krieg in der Ukraine stellt das Land vor gewaltige Herausforderungen. Eine neue Raketenangriffswelle aus Russland wird befürchtet, die Situation an der Front in der Ostukraine bleibt schwierig und das ganze Land kämpft gegen die Ausfälle der kritischen Infrastruktur. Doch jetzt ist mitten in der Krisenzeit auch noch ein Streit zwischen den prominentesten politischen Gesichtern der Ukraine entbrannt. Es geht um Macht und Auseinandersetzungen aus einer vergangenen Zeit.
Seit dem russischen Angriffskrieg zeigen sich die Politiker der Ukraine geeint. Denn Russland ist zum gemeinsamen Feind aller Parteien erklärt worden. Jetzt kritisiert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj aber öffentlich den Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko. Der Grund: der Umgang mit den Folgen der zerstörten kritischen Infrastruktur in der Hauptstadt.
Bereits am Wochenende tadelte Selenskyj: „Viele Kiewer waren über 20 oder sogar 30 Stunden ohne Strom.“ Er forderte bessere Arbeit vom Rathaus – also von Klitschko, dem Bürgermeister persönlich. Auch die Zufluchtspunkte, die sogenannten „Punkte der Unbesiegbarkeit“, bemängelte der Präsident in Kiew. Selenskyj schickte sogar seine Parteikollegen zum Heizstellen-Check. Das Urteil der Politiker: Was die Ausstattung der Aufwärmpunkte betrifft, sei die Arbeit der Stadtregierung „schlecht“.
Klitschko wies die Kritik von sich. Gegenüber der Nachrichtenagentur RBK-Ukraine erhob der ehemalige Boxweltmeister sogar Vorwürfe gegen die Präsidenten-Partei. Die Abgeordneten hätten ihm persönlich versichert, dass alle Einrichtungen normal funktionierten. „Doch danach veröffentlichen sie die gleichen kopiert wirkenden Beiträge, dass alles schlecht sei“, sagte Klitschko. Das sehe unglaubwürdig aus. Für seine Glaubwürdigkeit besuchte Klitschko ein Heizkraftwerk in Kiew und versprach den Einwohnern Weihnachtsbäume.
Was die Medienwirksamkeit angeht, ist Klitschko aber in der Ukraine eingeschränkt. Die lokalen Medien stehen dem ukrainischen Präsidenten nahe, weswegen sich Klitschko auch immer wieder an internationale Medien wendet. Besondere Sympathien dürften die beiden Männer ohnehin nicht füreinander hegen. In seiner Zeit als Komiker ließ Selenskyj auch Klitschko bei seinen Scherzen nicht aus.
Trotz allem warb Klitschko gestern erneut für Zusammenhalt. Nur der Zusammenhalt mache die Ukraine stark. Doch eine Spitze gegen den Präsidenten ließ sich Klitschko trotzdem nicht entgehen. „Wenn der Krieg vorbei ist, dann kann man Innenpolitik spielen“, kündigte er an.
Tatsächlich gehen manche Beobachter davon aus, dass Selenskyj mit seiner Kritik bereits an die Präsidentschaftswahl 2024 denkt. Schon 2019, nach seinem Amtsantritt, versuchte er den Kiewer Bürgermeister loszuwerden. Der damalige Chef des Präsidentenbüros, Andrij Bohdan, hatte damals öffentlich den Rücktritt gefordert. Denn Klitschko habe „die Kontrolle über die Situation in der Stadt im Verlaufe der letzten fünf Jahre verloren“. Damals gab es sogar Pläne, das Amt des gewählten Bürgermeisters vom Posten des Chefs der Stadtverwaltung zu trennen – Klitschko hätte dann nur noch ein repräsentatives Amt innegehabt. Doch der Ex-Boxweltmeister konnte sich durchsetzen, blieb Kiews Bürgermeister und Selenskyjs möglicher Herausforderer in der kommenden Wahl. Jetzt gilt es aber gemeinsam dem Krieg standzuhalten. LEONIE HUDELMAIER