Peking – „Ein einzelner Funke kann einen Steppenbrand auslösen“, lehrte einst der chinesische Revolutionär und Staatsgründer Mao Tsetung. Jeder Kommunist in China kennt den Spruch. Mit der größten Protestwelle seit drei Jahrzehnten könnte in China ein solcher Flächenbrand beginnen – angefacht vom Unmut der Menschen über die rigorose „Null-Covid“-Strategie. Es geht aber um mehr: Es ist die größte Herausforderung für den eben erst zum Alleinherrscher gekrönten Staats- und Parteichef. So riefen Demonstranten in Shanghai „Nieder mit Xi Jinping“ und „Nieder mit der Kommunistischen Partei“.
Der Funke war ein Wohnungsbrand mit zehn Todesopfern in der Millionenmetropole Ürümqi in der Nordwestregion Xinjiang. Viele Chinesen sind überzeugt, dass strenge Corona-Beschränkungen eine Rettung verhindert haben. Nur zu oft wird in China erlebt, dass bei der Isolation ganzer Wohnblocks nicht nur Türen, sondern auch Notausgänge verriegelt werden. Zur Absperrung aufgestellte Zäune und Barrieren verstellen oft die Zufahrt für Retter.
Dass hier ein Problem liegt, gestand die Regierung in Peking indirekt ein, indem sie erklärte, es sei „streng verboten“, Notausgänge zu versperren. Da waren die Straßen schon voll mit Demonstranten. Der Ärger braute sich seit Wochen zusammen: Lockdowns, Zwangsquarantäne, Lagerhaft zur Isolation, täglich Massentests, lückenlose Kontrolle über die Corona-App und Lohneinbußen durch Arbeitsausfall zehren an den Nerven.
Trotz all dieser Maßnahmen rollt die schlimmste Corona-Welle seit Ausbruch der Pandemie über das bevölkerungsreichste Land. Anfangs hatte die Null-Covid-Politik funktioniert. Den Erfolg verbuchte die Propaganda auf das Konto von Xi Jinping – dessen Name nun unauslöschlich mit der strikten Politik verbunden ist. Im Systemwettbewerb mit Demokratien feierte der seit Pandemie-Beginn abgeschottete chinesische Kommunismus seine scheinbare Überlegenheit, während westliche Länder mit dem Virus kämpften, das sich weiterentwickelte.
„Das war natürlich ein anderes Virus“, sagte ein europäischer Gesundheitsexperte in Peking. „Es war eine andere Situation.“ Australien und Neuseeland hatten erst ähnliche Null-Covid-Pläne verfolgt, um Zeit zu gewinnen. Diese hatten aber das klare Ziel, die Impfkampagne voranzubringen und sich auf einen Ausstieg vorzubereiten. „China hatte aber nie eine Strategie, wo sie hinwollen. Das ist das Riesenproblem.“ Jetzt sei das Virus im Land, habe sich etabliert. Spätestens seit Omikron hätte es eine Strategie gebraucht. „Das haben die wirklich völlig verpennt.“
Jetzt steckt China in einem großen Dilemma. Die leichtere Ansteckung erfordert immer härtere Maßnahmen. Ständige Lockdowns lassen sich aber immer schwerer durchsetzen. „Wenn sie jetzt aufmachen, dann gibt es sicherlich viele Tote“, sagte der Experte. „Die sind nicht vorbereitet.“ Von der Parteiführung gibt es Durchhalteparolen. Im Parteiorgan „Volkszeitung“ rief der Autor „Zhongyin“, das Pseudonym für die „Stimme der Parteiführung“, zum entschiedenen Kampf gegen das Virus auf: „Sei nicht unschlüssig, weiche nicht ab, bewahre die strategische Entschlossenheit, vertraue fest auf den Sieg.“ Das Volk will nicht mehr. „Wir wollen keine PCR-Tests, sondern Freiheit!“, riefen Demonstranten.