München – Die Rolle des Mahners steht ihm eigentlich gar nicht, aber wer soll es denn sonst tun? Natürlich gebe es die Gefahr einer Spaltung, sagte Gregor Gysi kürzlich in einem Interview und fügte an: „durch wen auch immer“. Er versicherte dann, alles zu tun, um das zu verhindern. Es habe auch schon ein Treffen mit Sahra Wagenknecht gegeben. Ob es etwas gebracht hat, sagte Gysi nicht.
Die Linke steckt seit Monaten in einer Krise, die viele Facetten hat – die schillerndste heißt Wagenknecht. Lange war sie das Gesicht der Partei, eigenbrötlerisch zwar, aber das verzieh man ihr gern. Dann kam die Flüchtlingskrise, Corona, Russlands Angriff auf die Ukraine, alles Themen, zu denen Wagenknecht sich fleißig äußerte, nur nicht im Sinne ihrer Partei. Die Entfremdung wuchs, inzwischen hat sie einen kritischen Punkt erreicht. Es ist wie in einer sehr maroden Ehe: Man lebt noch zusammen, aber sehnt die Scheidung herbei.
Die Frage ist nur, wer sich trennt – und wie.
Wagenknecht selbst dachte zuletzt über einen radikalen Schritt nach. Sie wünsche sich, dass „in Deutschland eine Partei entsteht, die die Politik der Regierung verändern kann“, sagte sie – und zwar nicht irgendwo, sondern im bei Linken verhassten Sender Bild TV. Seither steht die Möglichkeit einer Parteineugründung im Raum. Die 53-Jährige aber zögert. Noch.
Es ist nicht so, dass Wagenknecht völlig isoliert wäre – sie hat auch leidenschaftliche Unterstützer, Leute, die ihre Kritik an der Abgehobenheit der „Lifestyle-Linken“ teilen: Dieter Dehm, Sevim Dagdelen oder der Bayer Klaus Ernst. Auch bei vielen Wählern kommt sie an. Der „Spiegel“ gab kürzlich eine Umfrage dazu in Auftrag. Ergebnis: 30 Prozent der Befragten können sich vorstellen, eine Wagenknecht-Partei zu wählen; im Osten, Ex-Kernland der Linken, sind es sogar 49 Prozent. Besonders groß war das Interesse bei Linken und der AfD – was den Rechten ernste Sorgen bereitet.
Aber vor allem die Linke stellt die mögliche Spaltung vor ein Dilemma. Manche fürchten, die Partei wäre danach endgültig erledigt. Jetzt schon verliert sie eine Wahl nach der anderen, was wäre erst los, wenn die Wagenknecht-Stimmen fehlten? Die anderen sagen das Gegenteil: Wagenknecht sei für die Misere verantwortlich. Es funktioniere einfach nicht mehr mit ihr, heißt es aus der Bundestagsfraktion. Dass sie die Russland-Sanktionen einen „Wirtschaftskrieg“ nannte und die Grünen die „gefährlichste Partei“ im Bundestag, war vielen zu viel. Der gemeinsame Nenner sei einfach nicht mehr da.
Für die Fraktion würde eine Spaltung sofort Konsequenzen haben. 39 Abgeordnete sitzen im Bundestag. Würden vier oder fünf davon mit Wagenknecht gehen, verlöre der Rest den Fraktionsstatus und damit auch viel Vorzüge. Etwa Gelder, um Mitarbeiter zu bezahlen. Vier bis fünf, das sei realistisch, heißt es.
Wagenknecht ihrerseits weiß, wie groß das Risiko ist. Sie hat es selbst erlebt. Vor vier Jahren initiierte sie das Projekt „Aufstehen“, das sich als linke Sammlungsbewegung verstand. Aber der frische Wind war schnell verflogen, die Sache scheiterte. Fragt man Linke, die Wagenknecht kritisch sehen, verweisen sie gerne darauf. Auch jetzt fehlten ihr die Fußtruppen, heißt es dann. Eine neue Partei lebe nicht nur von einem Gesicht, sie brauche Strukturen, ein funktionierendes Team. Team und Wagenknecht, das widerspreche sich, sagen die einen. Strukturen seien schnell aufgebaut, sagen die anderen.
Ein Weg, der offenbar diskutiert wird, ist dieser: Wagenknecht könnte mit einer neuen Partei bei den Europawahlen 2024 antreten. Käme sie auf 0,5 Prozent der Stimmen, würden staatliche Mittel winken, die eine Basis für die Bundestagswahl im Jahr danach wären. Der nimmermüde Gysi versucht, all das zu verhindern, nach einer Spaltung sieht er nur Verlierer. Überhaupt ist er nicht sicher, ob Wagenknecht eine Neugründung will, oder ob andere sie dazu drängen. „Ich habe den Eindruck, sie ist in dieser Frage nicht entschlossen.“ Allzu lange wird sie mit der Entscheidung aber nicht mehr warten können.