Brüssel – Lange hatte sich die EU-Kommission geziert, jetzt macht sie im Dauer-Streit mit Ungarn ernst. Am Mittwoch empfahl die Brüsseler Behörde, EU-Gelder in Milliardenhöhe einzufrieren und erst dann freizugeben, wenn die rechtsnationale Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán Versprechen zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit umsetzt. Es geht um 7,5 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt und 5,8 Milliarden Euro an Corona-Hilfen – zusammen 13,3 Milliarden Euro.
„Während eine Reihe von Reformen durchgeführt oder im Gange sind, hat Ungarn zentrale Aspekte der 17 erforderlichen Abhilfemaßnahmen nicht angemessen umgesetzt“, teilte die Kommission mit. Nach wie vor seien wesentliche Schritte erforderlich, um Risiken für den EU-Haushalt in Ungarn zu beseitigen. Konkret wird etwa befürchtet, dass wegen Korruption EU-Mittel in den falschen Kanälen versickern.
Über das Geld aus dem EU-Haushalt muss nun ein EU-Ministerrat bis zum 19. Dezember entscheiden. Um Mittel einzufrieren, wäre eine qualifizierte Mehrheit nötig –mindestens 15 der 27 EU-Staaten müssten zustimmen und zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock kündigte an, dass Berlin „auf Grundlage der Empfehlung der EU-Kommission“ über das mögliche Einfrieren von EU-Geldern abstimmen werde. „Die Rechtsstaatlichkeit ist das Rückgrat unserer europäischen Demokratie und auch das Rückgrat des europäischen Binnenmarktes“, sagte die Grünen-Politikerin. Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments Katarina Barley geht davon aus, dass es eine Mehrheit für die Empfehlung der Kommission geben wird.
Bei den Corona-Hilfen schlägt die Kommission vor, den ungarischen Plan zur Verwendung der Gelder formell zu bestätigen. Auszahlungen soll es aber nur geben, wenn das Land 27 Voraussetzungen erfüllt. Dazu gehören auch die, die in dem Rechtsstaatlichkeitsverfahren formuliert wurden. Ähnlich ist die Kommission im Fall von Polen vorgegangen, deren Plan bereits angenommen wurde.
Aus Budapest gab es vorerst keine Reaktion. Die dortige Regierung macht den Streit mit Brüssel auch dafür verantwortlich, dass sie die Entscheidung für den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands noch nicht ratifiziert hat. Das ziehe sich, „weil die Tagesordnung des Parlaments voll von Gesetzesentwürfen ist, die die EU-Kommission vorgeschlagen hat“, sagte Tibor Navracsics, Minister für Regionalentwicklung.
Spannend ist der Streit auch deshalb, weil Ungarn erhebliche Mittel in der Hand hält, um Druck auf die EU auszuüben. Budapest könnte alle Entscheidungen blockieren, für die in der EU Einstimmigkeit erforderlich ist: etwa Russland-Sanktionen oder Hilfe für die Ukraine. Aus Sicht des CSU-Abgeordneten Markus Ferber könnten aber Ungarns finanzielle Probleme die Regierung zum Entgegenkommen bewegen. „Die ungarische Wirtschaft steht am Rande einer Rezession, die Kritik an Orbáns Wirtschaftspolitik nimmt zu. Da käme eine Milliardenzahlung aus Brüssel gerade recht.“
Die EU-Kommission wirft Ungarn seit Jahren vor, EU-Standards und Grundwerte zu untergraben. Die Behörde startete etliche Vertragsverletzungsverfahren und verklagte Ungarn vor dem Europäischen Gerichtshof – ohne einen Kurswechsel in Budapest erreicht zu haben.
Konkret kritisiert die Kommission, dass die unabhängigen Mechanismen zur Aufdeckung von Korruption unzureichend seien. Die Rede ist von einem Umfeld, „in dem die Risiken von Klientelismus, Günstlings- und Vetternwirtschaft in der hochrangigen öffentlichen Verwaltung nicht angegangen werden“. Der FPD-Europaabgeordnete Moritz Körner sagte: „Sobald die Korruption in Ungarn nachweislich bekämpft wird, können die EU-Mittel fließen.“ M. MAJEWSKY UND A. HAASE