„Wir haben uns alle in Putin getäuscht“

von Redaktion

Er ist 80 Jahre alt – und sitzt inzwischen seit 50 Jahren im Bundestag. Wolfgang Schäuble hat die deutsche Politik geprägt wie kaum ein anderer. Ein Gespräch.

Herr Schäuble, Sie sind „Dienstältester“ im Bundestag. Erschreckt Sie das gelegentlich?

Nein, das erschreckt mich nicht. Manchmal ist es lästig, darüber nachzudenken. Aber was soll ich sagen, die 50 Jahre sind schnell verflogen.

Lassen Sie uns über Ihre Jahrzehnte in der Politik sprechen. Kommt Ihnen ein besonders freudiger oder tragischer Moment im Bundestag in den Sinn?

Nicht der eine Moment. Aber natürlich war der Zeitraum vom 9. November 1989 bis zum 3. Oktober 1990, vom Mauerfall bis zur Wiedervereinigung, die prägendste Periode in meinem politischen Leben, die größte Zeit für mich.

Eine Ihrer Bundestagsreden ist besonders in Erinnerung geblieben: 1991 haben Sie sich vehement für Berlin als Regierungssitz ausgesprochen, mit Erfolg. In Bonn nahm man Ihnen das krumm.

Die größte Sorge für viele in der Bundesrepublik war offenbar, dass sich auch für sie etwas verändern könnte. Sie wollten nicht begreifen, dass die Welt eine gänzlich andere geworden war. Der Widerstand gegen die Verlagerung der Hauptstadt war in allen Fraktionen groß, auch bei CDU/CSU. Alle westdeutschen Ministerpräsidenten waren für Bonn.

Für die Menschen in der DDR hat sich fast alles geändert, für jene im Westen fast nichts, mit Ausnahme der Hauptstadt.

Man muss ja verstehen: Für die Menschen in Westdeutschland ging es nach dem Weltkrieg, mit der Gründung der Bundesrepublik, der Einführung der D-Mark, dem Wirtschaftswunder fast immer nur bergauf. Wir sind sogar 1954 Fußball-Weltmeister geworden, aber das nur am Rande. Deshalb gab es im Westen nicht die geringste Motivation, etwas anderes zu wollen.

Und im Osten?

Die Menschen in der DDR wollten so leben wie in der Bundesrepublik! Sie lebten ja in einer Diktatur. In der Bundesrepublik hat man da nur gedacht: Ist ja nett, sind ja unsere Brüder und Schwestern. Wir helfen ihnen gerne, aber für uns hat das kaum Konsequenzen. Das war falsch. Außerdem hat man wohl falsche Erwartungen genährt und den Eindruck vermittelt, im Westen sei alles gut.

Das Thema treibt Sie noch immer um. Weshalb?

Naja, 30 Jahre später, zum Jahrestag der Wiedervereinigung, konnte man in den Kommentaren und den Zeitungen lesen, es wäre alles zu schnell gegangen, man hätte viel mehr die Errungenschaften der DDR übernehmen müssen – und so ein Quatsch. Die Mehrheit der Menschen in der DDR wollte so leben wie in der Bundesrepublik! Nur die Bürgerbewegung hatte zum Teil andere Vorstellungen, sie wollte die DDR reformieren. Aber das war nicht die Mehrheit.

Lassen Sie uns zehn Jahre weiterspringen – in den September 2001. Da hat ein gewisser Wladimir Putin im Bundestag auf Deutsch geredet und Standing Ovations erhalten. Wie sehr haben Sie sich in ihm getäuscht?

Wir haben uns alle getäuscht. Schon in der Jelzin-Ära wurde der Einfluss des russischen Geheimdienstes, der ja Russland wie eine Krake beherrscht, immer größer. Putin kam aus der St. Petersburger Zelle des Geheimdienstes. Aber was daraus geworden ist, das haben wir damals natürlich nicht geahnt. Wir dachten, dass wir mit engeren Beziehungen zu Russland, mit Partnerschaft, etwas erreichen können. Putin hat ja gesagt, dass der Zerfall der Sowjetunion die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Er hat es so gemeint, wie er es gesagt hat.

Wie weit wird Putin in diesem Krieg gegen die Ukraine gehen?

Das weiß ich nicht. Eines ist klar: Putin darf den Krieg nicht gewinnen, weil er dann weitermacht. Der frühere polnische Staatspräsident Lech Kaczynski hat nach Russlands Überfall auf Georgien gewarnt: „Erst kommt Georgien, dann die Ukraine, dann Moldawien, dann die baltischen Staaten und dann Polen.“ Das haben wir nicht geglaubt. Wir hätten es früher wissen können, aber wir wollten es offenbar nicht wissen. Und jetzt sagen die einen, da haben wir wohl Fehler gemacht, und die anderen, wir haben keine Fehler gemacht. Ich kann nur sagen: Wir haben uns getäuscht!

Es zeigt sich ein roter Faden: Die Politik weiß oft wenig und muss doch handeln. Wie führt man da?

Das ist die Kunst von Politik.

Es ist offensichtlich, dass die Politik über Jahrzehnte zu wenig für den Klimaschutz getan hat. Verstehen Sie nun die Proteste?

Das gehört zur Demokratie dazu. Aber wenn es bedeutet, dass man den Verkehr oder den Flughafen lahmlegt, dann schaden die Aktivistinnen und Aktivisten ihrem Anliegen. Man sieht es ja: Wir reden jetzt nicht mehr über das Anliegen, die ökologische Katastrophe zu verhindern, sondern über die Rechtsbrüche der Demonstranten.

Aus der Union hört man Begriffe wie „Klima-RAF“. Eine adäquate Reaktion?

Ach was, von solchen Begriffen halte ich überhaupt nichts. Aber es gibt immer die Gefahr, dass jüngere Menschen, wenn sie mit den Verhältnissen unzufrieden sind, jedes Maß verlieren. Dann wird es schlimmer als das, was sie bekämpfen wollen.

Interview: Martin Benninghoff

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