Regieren in Zeiten des Krieges

von Redaktion

Vor einem Jahr wurde in Berlin die Ampel-Regierung vereidigt. Sie trat an, um das Land zu modernisieren. Dann kam der Krieg – seitdem regieren SPD, Grüne und FDP im Krisenmodus. Eine Zwischenbilanz.

VON MICHAEL FISCHER, CARSTEN HOFFMANN UND ANNE CLASMANN

Berlin – Zum Geburtstag gehören Geschenke. Das muss auch für eine Koalition gelten, wird sich Bundeskanzler Olaf Scholz gedacht haben. Jedenfalls hat der SPD-Politiker am Mittwoch in der Kabinettssitzung für jeden Kollegen ein kleines Präsent parat, um sich für ein Jahr Zusammenarbeit zu bedanken: eine Tafel Schokolade der Berliner Marke „Ampelmann“, mit dem DDR-Ampelmännchen auf der Verpackung. „Ich finde, wir haben viel geschafft und viel hingekriegt“, sagt er.

Für Gelächter sorgt in der Runde die Geschmacksrichtung des Kanzler-Geschenks: Zartbitter. „Das beschreibt’s doch ganz gut“, sagt Verteidigungsminister Christine Lambrecht (SPD), für die es eher bittere als zarte Tage sind. Doch zartbitter trifft die allgemeine Stimmung in der Koalition: Es habe zwar geruckelt und manchmal auch gerappelt, aber irgendwie sei man dann doch ganz gut durchgekommen, heißt es.

Die Opposition sieht das naturgemäß anders. Der Chef der CSU im Bundestag, Alexander Dobrindt, gibt der Ampel nach einem Jahr „eine glatte 5“. Und auch die Wähler bewerten die Regierung eher negativ. Nach einer YouGov-Umfrage im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur sind 66 Prozent unzufrieden, nur 26 Prozent zufrieden. Unumstritten ist aber, dass kaum eine Bundesregierung unter so turbulenten Rahmenbedingungen starten musste wie diese.

Als Scholz und seine 16 Minister heute vor einem Jahr vereidigt werden, ist die Welt noch eine andere. Die Ampel verkauft sich als Reformregierung, nimmt sich einen neuen Politikstil vor. In seiner ersten Regierungserklärung Mitte Dezember kommt das Wort Aufbruch zehn Mal vor, Fortschritt 31 Mal.

Die Ukraine erwähnt Scholz in 86 Minuten Rede gar nicht, Russland kommt nur ein einziges Mal vor. Man werde den „konstruktiven Dialog“ mit Moskau suchen. „Gerade wir müssen bereit sein, immer einmal öfter den Versuch der Verständigung zu unternehmen.“ Zehn Wochen später steht der Kanzler erneut am Rednerpult des Bundestags, um in einer eilig einberufenen Sondersitzung Konsequenzen aus dem russischen Angriff auf die Ukraine anzukündigen. „Wir erleben eine Zeitenwende“, sagt er und kündigt eine radikale Kehrtwende in der Außen- und Verteidigungspolitik an. Ab sofort werden Waffen in ein Kriegsgebiet geliefert. Ein Tabubruch. Die Bundeswehr soll mit 100 Milliarden Euro aufgerüstet werden. Bei den Verbündeten wird die schon bald als historisch eingestufte Rede mit Staunen und Respekt aufgenommen.

Der Koalitionsvertrag ist mit diesem Tag Makulatur. Die Ampel regiert von nun an im Krisenmodus. Waffenlieferungen, Energiebeschaffung, Inflationsbekämpfung – das sind die Themen, um die es nun geht. Das Krisenmanagement ist holprig. Die Koalition ist sich uneins, wie schnell die Ukraine mit schweren Waffen versorgt werden soll. Die Ukraine und Nato-Bündnispartner werfen Deutschland Zögerlichkeit vor. Erst mit der Kiew-Reise des Kanzlers im Juni wendet sich das Blatt langsam.

Inzwischen hat Deutschland Waffen für fast zwei Milliarden Euro ins Kriegsgebiet geliefert. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj lobt den deutschen Beitrag, statt sich ständig zu beschweren – auch wenn noch Wünsche wie die nach Kampfpanzern oder Patriot-Flugabwehrbatterien offen sind. Es bleibt der Vorwurf an Deutschland, bei der Unterstützung der Ukraine nicht voranzumarschieren, sondern im Geleitzug der USA zu verharren.

Auch bei der Bewältigung der Energiekrise läuft es nicht so richtig rund. Scholz und sein Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) verzocken sich mit der Gasumlage, die nach kurzer Zeit wieder einkassiert werden muss. Im Streit um die Laufzeiten der Atomkraftwerke verhaken sich FDP und Grüne so sehr, dass der Kanzler formell seine Richtlinienkompetenz wahrnehmen muss. Das gab es zuletzt bei Konrad Adenauer (CDU) vor mehr als einem halben Jahrhundert.

Die Hauptkonfliktlinie in dieser Koalition ist von Anfang an klar: Zwischen Gelb und Grün. Die Grünen werfen etwa FDP-Verkehrsminister Volker Wissing vor, zu wenig für den Klimaschutz zu tun. Die FDP stößt sich an fehlendem Ehrgeiz der Grünen, wenn es darum geht zu sparen. Wenn es um Stilfragen geht, richtet sich die aus den Reihen von Grünen und FDP hinter den Kulissen geäußerte Kritik oft gegen Spitzenpolitiker der SPD. Vor allem die Kommunikation des Kanzlers nach außen geht vielen gegen den Strich.

Aus dem Koalitionsvertrag werden trotz Krise einige wichtige Projekte umgesetzt. Dazu gehört der Mindestlohn von 12 Euro, das Bürgergeld, ein höheres Kindergeld und ein erweitertes Wohngeld, Maßnahmen zur Förderung erneuerbarer Energien. An die 100 Gesetze beschließt der Bundestag.

Die Erfolge und Misserfolge zahlen aber alles andere als gleichmäßig auf die Konten der Koalitionäre ein. Unter dem Strich kommen die Grünen mit Abstand am besten weg. Von ihren Wählern zeigen sich in der YouGov-Umfrage 56 Prozent mit der Arbeit der Koalition zufrieden. Von den Anhängern der SPD sind es lediglich 48 Prozent und von denen der FDP sogar nur 24 Prozent.

Unter den Kabinettsmitgliedern gilt Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) als die große Gewinnerin. Sie hat ihre erfolglose Kanzlerkandidatur schnell weggesteckt und einen neuen Stil der klaren Ansprache in der Außenpolitik etabliert. Vizekanzler Robert Habeck hat ein durchwachsenes Jahr hinter sich, kommt in den Umfragen aber trotzdem noch ganz gut weg. Kanzler Scholz und FDP-Chef Christian Lindner rangieren dahinter. Im Vergleich zur Bundestagswahl haben SPD und FDP in den Umfragen Einbußen zu verkraften, nur die Grünen haben hinzugewonnen. Diese Schieflage zeigte sich auch in der Niederlagenserie der FDP bei den Landtagswahlen. Unmittelbar gefährdet ist diese Koalition trotzdem erst einmal nicht. Krisen schweißen zusammen. Der Ampel-Zauber des Anfangs ist allerdings lange verflogen.

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