München – In besseren Zeiten sind Jubiläen ein Anlass zum Feiern. Man blickt zurück, zieht ein positives Fazit, aus dem sich Schwung für die nächsten Jahre gewinnen lässt. Aber weil die Zeiten schon länger nicht mehr gut sind, fällt Olaf Scholz’ Bilanz nach einem Jahr Ampel-Koalition nüchtern aus. Der Kanzler spricht in einem Interview mit der Funke-Mediengruppe und der französischen Zeitung „Ouest-France“ lediglich davon, „zufrieden“ zu sein. Allen Turbulenzen zum Trotz stehe man „ziemlich stabil“ da.
Ziemlich stabil, das ist nach Scholz’ rhetorischen Maßstäben schon fast an der Grenze zur Euphorie. Man werde gut durch den Winter kommen, argumentiert er, engagiere sich bei der Unterstützung der Ukraine, modernisiere die Wirtschaft, baue erneuerbare Energien aus. Überraschend klingt das alles nicht. Kein Regierungschef geht an so einem Tag hart mit sich ins Gericht – dafür hat er die Opposition. Die hält das Bündnis eher für windschief, aber ein Geheimnis ist das auch nicht mehr.
Scholz war der letzte westliche Regierungschef, der Wladimir Putin in Moskau aufsuchte, um doch noch einen Krieg zu verhindern. Erfolg war ihm nicht beschieden, doch knapp zehn Monate später sieht der Kanzler zumindest in einem Punkt so etwas wie ein Einlenken des Kreml-Chefs: „Russland hat aufgehört, mit dem Einsatz von Atomwaffen zu drohen.“ Er führt das auf die roten Linien zurück, die die Staatengemeinschaft in den vergangenen Wochen gezogen habe. Er selbst mit Chinas Präsident Xi in Peking, wenig später die G20. Für den Moment, glaubt Scholz, habe man „einen Pflock eingeschlagen“ gegen die atomare Eskalation.
Nicht jeder Beobachter sieht das so wohlwollend. Der Kölner Politologe Thomas Jäger wertet Scholz’ Ansage als gezielte Botschaft, um sich als Mann der Tat zu inszenieren, während die Öffentlichkeit den gegenteiligen Eindruck haben könnte. „Der Kanzler will zeigen, dass er Führung übernimmt“, sagte Jäger im Sender n-tv. Er wolle damit den Druck abfedern, dem er an anderen Stellen ausgesetzt sei, „etwa bei der Lieferung von Kampfpanzern“. Ohnehin sei die Gefahr eines russischen Atomschlages schon zuvor „relativ gering“ gewesen: „Weil sie weder politisch noch militärisch rational gewesen wäre.“
Als „Koalition des Fortschritts“ ist die Ampel vor einem Jahr aufgebrochen, aber dieser Anspruch war schon nach zweieinhalb Monaten und dem russischen Einmarsch in der Ukraine nicht mehr zu halten. Nun füge sich die Koalition ein in das Muster früherer Bündnisse, moniert Ursula Münch, die Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Erneut habe das Land „eine Regierung, die Scheu vor nachhaltigen Strukturveränderungen hat – dieses Mal aus Angst vor sozialen Protesten“, sagte sie der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. So fließe das Geld nicht in den nötigen Aufbruch, sondern nach dem „Prinzip Gießkanne“ in „Entlastungspakete für alle“. Aufgegeben hat Münch die Hoffnung auf ein bisschen mehr Fortschritt gleichwohl nicht: „Wenn es der Koalition gelingt, die Möglichkeiten der Einwanderung zu modernisieren, ohne die Integrationskraft Deutschlands überzustrapazieren, wäre das ein Markenzeichen.“
Noch wirkt das wie eine ferne Vision, aber mit unwahrscheinlichen Erfolgen kennt man sich in der SPD ja aus. Scholz hat dann auch die Bundestagswahl 2025 bereits fest im Blick: „Natürlich trete ich an.“ Die mauen Umfragewerte von heute sind die Chance von morgen. Er sei „dankbar für die Möglichkeit, noch weitere Unterstützung zu gewinnen“.
Zum Jubiläum empfing der Kanzler gestern die deutschen Teilnehmer an der Berufe-Weltmeisterschaft, danach ging es in vertrauter Runde weiter: mit einer Ministerpräsidentenkonferenz. Wie passend. Rauschende Feste waren diese Treffen noch nie.