Die Krise der Grundschulen

von Redaktion

VON DIRK WALTER UND JÖRG RATZSCH

München/Berlin – Jedes fünfte Grundschulkind in der vierten Klasse hat ernste Probleme mit Lesen, Schreiben und Rechnen, ermittelte jüngst der IQB-Bildungstest. Die Schulschließungen während der Corona-Zeit sind ein Grund dafür, aber nicht der alleinige. Die „alarmierenden Befunde“ aus den Grundschulen müssten als Weckruf verstanden werden, erklärten die Wissenschaftler Felicitas Thiel und Michael Becker-Mrotzek bei der Vorstellung ihres Gutachtens für die Kultusministerkonferenz (KMK). Die Experten gehören zur „Ständigen Wissenschaftliche Kommission“ (SWK), ein bei der KMK angesiedeltes Beratergremium.

In dem Gutachten schlagen sie 20 Gegenmaßnahmen vor. Unter anderem folgende:

. Die Erzieheraus- und -fortbildung soll stärker auf die Förderung sprachlicher, mathematischer und sozialer Kompetenzen ausgerichtet werden. Fachkräfte sollten mindestens drei Fortbildungstage pro Jahr und mehr Zeit für pädagogische Arbeit mit den Kindern bekommen. Im Alter von drei bis vier Jahren empfehlen die Wissenschaftler flächendeckende Sprachtests aller Kinder, auch derjenigen, die nicht zur Kita gehen, und eine verbindliche Förderung, falls Defizite festgestellt werden.

. Für die Grundschule raten sie zu im Schnitt mindestens sechs Stunden Deutsch und fünf Stunden Mathematik pro Woche. Dazu sollte in „standardisierten Diagnoseverfahren“ mehrmals pro Schuljahr überprüft werden, ob Mindeststandards erreicht sind. Das muss nach Angaben der Kommission keinen Mehraufwand für Lehrkräfte bedeuten. „Es werden auch jetzt schon Klassenarbeiten und Tests geschrieben, die korrigiert werden, die aber häufig noch nicht unter diagnostischen Gesichtspunkten gesehen werden“, sagte Becker-Mrotzek.

. Verpflichtende halbjährliche Lern- und Entwicklungsgespräche mit Eltern, mehr Gestaltungsspielraum und Zeit für Schulleitungen („Entlastungsstunden“) zur Personal- und Schulentwicklung und eine gezielte Förderung von Grundschulen mit vielen Kindern aus sozial schlechter gestellten Familien sind weitere Empfehlungen.

Die KMK kündigte an, bis zum Sommer politische Handlungsempfehlungen aus dem Papier abzuleiten. Es sollte als „Weckruf und sofortiger Handlungsauftrag“ verstanden werden, hieß es vom Deutschen Lehrerverband. Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger begrüßte unter anderem die nach seiner Auffassung „knallharte Forderung“ der Experten nach einer umfassenden Sprachstandsdiagnostik für Kita-Kinder, verbunden mit verbindlicher anschließender Sprachförderung. Das fordere sein Verband seit zehn Jahren.

Vieles ist in Bayern schon umgesetzt, etwa das Stundenkontingent für Mathematik und Deutsch. Andere Bundesländer müssten da stärker umsteuern, sagte Meidinger. Experimente wie etwa, dass Grundschulkinder Programmiertools am Computer erlernen, hält der frühere Gymnasialdirektor für verschwendete Zeit. Er fordert auch, auf andere Fächer wie etwa Englisch an der Grundschule zu verzichten – wobei er prompt Widerspruch von der Katholischen Erziehergemeinschaft erntet.

Unstrittig ist: Bei der Frühdiagnostik, so wie sie die Kommission verlangt, gibt es auch im Freistaat Nachholbedarf. Die Frage dürfte sein, ob es überhaupt rechtlich zulässig ist, alle Kita-Kinder verpflichtend zu testen, wie es die SWK vorschlägt. Simone Fleischmann, Chefin von Bayerns größtem Lehrerverband BLLV, wird indes langsam sauer. „Es darf doch nicht wahr sein, dass nun ein weiteres Gutachten bestätigt, was wir alle schon lange wissen.“ Der BLLV fordert beispielsweise schon lange den Einsatz multiprofessioneller Teams an den Schulen. Lehrer sollen mit Förder- und Sozialpädagogen sowie Gesundheitsberatern zusammenarbeiten – ein Punkt, der von der SWK aufgegriffen wird. Die Experten fordern sogar verpflichtend mindestens eine Stunde wöchentlich für „multiprofessionelle Kooperationen“.

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