Leonid Wolkow ist der politische Direktor der von Alexej Nawalny gegründeten Antikorruptionstiftung FBK. Unsere Zeitung traf Wolkow in Stuttgart, wo er sein Buch „Putinland“ vorstellte.
Nawalny, für Putin Staatsfeind Nr. 1, ist zu neun Jahren Lagerhaft verurteilt. Wie geht es ihm?
Es geht ihm nicht gut. Wir machen uns Sorgen. Seit August befindet er sich in Einzelhaft in einer 2,5 mal drei Meter großen Zelle. Seine Kontakte zur Außenwelt sind extrem eingeschränkt worden. Man versucht, ihn psychisch zu zermürben. Aber er ist eine starke Persönlichkeit.
Kann der Westen etwas für ihn tun?
Er darf nicht in Vergessenheit geraten. Es muss weiter wie jetzt vom Europarat gegen die Haftbedingungen protestiert werden. Das ist eine Art Lebensversicherung für ihn.
Sie nennen in Ihrem Buch schwindelerregende Zahlen von veruntreuten Geldern durch Putin und seine Leute. Woher stammen diese Unsummen?
Nun, der Geldfluss wurde größtenteils durch den Gas- und Ölexport gespeist. Nach dem Überfall auf die Ukraine hat die EU zwar Sanktionen verhängt, aber sie waren zu zaghaft und zu zögerlich. Seit Kriegsbeginn haben die 27 EU-Staaten der Ukraine Hilfen im Gesamtwert von 27 Milliarden Euro zukommen lassen. In der gleichen Zeit sind aber für Gas- und Ölimporte 100 Milliarden Euro nach Russland geflossen. Das hält die russische Kriegsmaschinerie am Leben. Die Sanktionen müssten noch viel schärfer ausfallen.
Sie werfen Putin vor, er habe im Laufe der Zeit „jede Verbindung zur Realität verloren“. Warum das?
Zum einen ist das eine Folge seines Herrschaftssystems. Um nicht aus dem inneren Machtzirkel verstoßen zu werden, haben ihm seine Gefolgsleute aus ihren Bereichen stets nur Erfolge übermittelt, auch wenn es anders war. Während der Corona-Krise hat sich das ins Extreme gesteigert. Weil Putin große Angst hatte, sich anzustecken, hat er sich völlig isoliert, nur noch mit wenigen Vertrauten beraten. So ist er auch bei der Vorbereitung des Überfalls auf die Ukraine zu einer krassen Fehleinschätzung der Lage gelangt. Er nahm tatsächlich an, die ukrainische Armee würde kaum Widerstand leisten, die russischen Truppen würden als Befreier begrüßt, er könne das Land in wenigen Tagen in seine Gewalt bringen.
Biden und Macron sagten, sie seien zu Verhandlungen mit Putin bereit. Scholz hat neulich wieder eine Stunde mit Putin telefoniert. Ist das sinnvoll?
Nein. Es ist sinnlos, mit Putin zu verhandeln. Selbst wenn es zu Verhandlungen und einem Abkommen käme, würde das keine Sicherheit bringen. Putin respektiert keine Verträge. Im „Budapest Memorandum“ von 1994 verzichtete die Ukraine auf die Nuklearwaffen, die sie von der Sowjetunion „geerbt“ hatte. Als Gegenleistung verpflichteten sich die USA, Großbritannien und auch Russland, die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Ukraine zu achten. Mit der Annexion der Krim 2014 hat Putin das Abkommen gebrochen und der Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt, dass er das Völkerrecht völlig missachtet. Gespräche mit Putin stützen lediglich seine Machtposition. Diese muss vielmehr unterminiert werden.
Wie kann das geschehen?
Wir tun das unsrige. Bei FBK in Vilnius produzieren wir YouTube-Videos für die russische Bevölkerung, mit denen wir der Propaganda der russischen Regierung entgegentreten. Auf diese Sendungen greifen 15 Millionen Zuschauer zu. Bei einer Gesamtbevölkerung von 145 Millionen ist das ein erheblicher Teil der erwachsenen aktiven Bevölkerung.
Zu Beginn des Krieges stand eine Mehrheit der Bevölkerung hinter Putin. Wendet sich die Stimmung gegen ihn?
Im FBK haben wir ein eigenes Umfrageinstitut aufgebaut. Über das Internet machen wir regelmäßig repräsentative telefonische Befragungen in Russland. Der russische Staat verfügt nicht über die Kontrollmechanismen, um das zu unterbinden. Wir haben gesehen, dass seit der Mobilisierung und seit auch Wehrpflichtige an die Front geschickt werden, die Zustimmungswerte für Putin steil nach unten gegangen sind.
Interview: Hans Dieter Sauer