München – Mit dem Optimismus ist es so eine Sache: Er kann beflügeln und zugleich blind machen. Nach dem Ende des Kalten Krieges schien die Welt vom Kampf der Ideologien befreit, für die meisten Beobachter und Entscheider war undenkbar, dass der siegreiche Liberalismus 30 Jahre später erneut herausgefordert werden könnte. Heute stehen wir da, noch immer etwas überwältigt und fragend: Wie konnte das passieren?
Dass der Westen seinen Anteil daran hat, ist keine rasend neue Erkenntnis. Und doch ist die Gesamtschau der Fehler, die seine Eliten in den vergangenen drei Jahrzehnten – teils in bester Absicht – begingen, bedrückend. Peter R. Neumann, Politologe, Terror-Experte und kurz auch Teil des Schattenkabinetts von Armin Laschet, hat dem Thema ein Buch gewidmet. In „Die neue Weltunordnung“ beschreibt er, welchen Anteil die USA und ihre Verbündeten an der eigenen Misere haben. Der Vorwurf reicht von Naivität bis Überheblichkeit. Der Westen, schreibt Neumann, habe sich „auf fatale Weise selbst überschätzt“.
Die klarsichtige Analyse setzt mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein, als der US-Politologe Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ gekommen sah. Die Selbstbetrunkenheit des Westens war gigantisch, man glaubte, dass der von freien Märkten und freien Menschen getragene Liberalismus die ganze Welt infizieren und, mangels Feinden, zum ewigen Frieden führen würde. Verteidigungsbudgets wurden (teils drastisch) reduziert, aufziehende Gefahren wie islamistischer Terror oder Nationalismus ignoriert. Neumann schreibt von einer „verlorenen Dekade“.
Aus heutiger Sicht wirken die Annahmen von damals fast traumtänzerisch. Zum Beleg – Ja, die dachten wirklich so – setzt der Autor nicht nur auf schriftliche Quellen, sondern lässt auch Beteiligte zu Wort kommen, denen er in Interviews auf den Zahn fühlte. Eine Stärke des Buchs, das sich den Vorwurf akademischer Verschlossenheit nicht machen lassen muss.
So liest sich leicht, was bis heute schwer wiegt: Auf den quasi grenzenlosen Optimismus folgte Überheblichkeit: Denn die Versuche, nach dem epochalen Schock des 11. September Demokratie mit militärischer Gewalt zu exportieren, missglückten bekanntermaßen auf ganzer Linie. Zum äußeren Scheitern in Afghanistan oder – auf andere Weise – auch in Syrien kamen innere Verwerfungen hinzu: die Finanzkrise, wachsender Nationalismus, der Brexit, Trump und – quasi als vorläufiger Höhepunkt – Putin.
Neumanns Analyse scheint bisweilen zu linear, um wahr zu sein. Das ist aber ein falscher, vielleicht der Dichte des Buches geschuldeter Eindruck, denn die Argumentation ist kaum hintergehbar. Dass der demokratische Westen durch eigene Fehler nicht nur einen Großteil seiner Glaubwürdigkeit und Strahlkraft verspielt hat, wird niemand bestreiten. Russland fühlte sich jedenfalls bestärkt genug, einen neuen Krieg in Europa zu beginnen. Chinas Herrscher teilen die Absicht, gehen nur diskreter vor.
Und nun? Neumann gibt den Westen und seine Ideale nicht verloren, vorausgesetzt, er erfindet sich neu, als „nachhaltige Moderne“. Was genau das bedeutet, ist im Buch aber nur angedeutet, etwa so: Der Westen müsse sich kritischer hinterfragen und seine Interessen pragmatischer verfolgen, ohne die Werte, die seinen Reiz ausmachen, aufzugeben. Zugleich dürfe er keine faulen Kompromisse mit Akteuren schließen, die ihm schaden wollen. Das klingt nach Spagat und schreit nach Erläuterung. Dass Neumann gerade hier spart, ist das einzige Manko seiner klugen, aufschlussreichen Analyse.
Peter R. Neumann:
„Die neue Weltunordnung. Wie sich der Westen selbst zerstört“, Rowohlt Berlin, 336 Seiten; 24 Euro.