Istanbul – Einen Tag nach der Verhängung eines Politikverbots gegen den Istanbuler Bürgermeister weht vor dem Rathaus ein Meer aus rot-weißen Türkei-Fahnen. Mit erhobener Faust ruft Ekrem Imamoglu den tausenden dort Versammelten zu: „Wir haben keine Angst“, man werde sich gegen „Ungerechtigkeit“ vereinen und die „dunklen Tage“ überwinden. Im Chor fordert die Menge den Rücktritt der Regierung von Recep Tayyip Erdogan. Sie haben sich für einen versammelt, der als ernst zu nehmender Konkurrent des türkischen Präsidenten gilt. Bisher, denn Imamoglu droht das politische Aus.
Spätestens seit 2019 dürfte Imamoglu Erdogan ein Dorn im Auge gewesen sein. Damals gewann er als unbekannter Politiker gegen die regierende AKP in Istanbul, Erdogans Heimatstadt. Es war eine symbolträchtige Niederlage für den Präsidenten. Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei, heißt es.
Imamoglu von der Mitte-Links Partei CHP wurde seither als möglicher Präsidentschaftskandidat bei den für Juni geplanten Wahlen gehandelt. Doch diese Aussicht scheint vorerst zerschlagen: Der 52-Jährige wurde am Mittwoch wegen Beamtenbeleidigung mit einem Politikverbot belegt und zu einer Haft von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt (wir berichteten). Die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch spricht von einem „politisch kalkulierten Angriff“, das Auswärtige Amt von einem „herben Rückschlag für die Demokratie“.
Tatsächlich mutet der Grund für die Verurteilung Imamoglus harmlos an: Er soll Beamte der Wahlbehörde als „Idioten“ bezeichnet haben, nachdem die die Bürgermeisterwahl 2019 wiederholen ließen – auch im zweiten Wahlgang gewann Imamoglu. Sein Amt hat er so lange inne, bis das Urteil rechtskräftig ist. Vorher muss es noch durch zwei Instanzen – Dauer ungewiss. Dass die Entscheidung auf diesem Wege noch widerrufen wird, gilt als unwahrscheinlich. Die Justiz ist weitgehend unter Kontrolle der Regierung, und die Gewaltenteilung ist seit der Einführung des Präsidialsystems quasi aufgehoben.
Dass Istanbul an die AKP fällt, scheint damit für viele ausgemacht. Sollte es so kommen, wählt das Stadtparlament einen neuen Bürgermeister – in dem hat die Partei Erdogans mit ihrem Partner, der ultranationalistischen MHP, die Mehrheit. Die Kontrolle der 16-Millionen-Metropole bedeutet auch Geld, etwa über Einnahmen aus der Vermietung kommunaler Gebäude wie Wohnheimen. Die AKP könne so auch vor den Wahlen Mittel an religiöse Gemeinschaften und Interessengruppen fließen lassen, sagt der Analyst Murat Yetkin, um sich so Unterstützung zu sichern.
Imamoglu ist nicht der erste Erdogan-Konkurrent, gegen den laut Kritiker-Lesart ein „politisch motiviertes Verfahren“ geführt wurde. Selahattin Demirtas, der charismatische Ex-Vorsitzende der pro-kurdischen HDP, sitzt seit 2016 im Gefängnis – wie tausende seiner Parteigenossen. Gegen die HDP, nach der CHP zweitstärkste Oppositionspartei, hat die Regierung zudem ein Verbotsverfahren angestrengt. Beobachter erwarten ihre Schließung noch vor den Wahlen. Die Regierung widerspricht ihrerseits der Darstellung, dass in der Türkei politische Verfahren geführt werden: Die Justiz sei unabhängig, so Justizminister Bekir Bozdag.
Wählerstimmen jedenfalls hat Erdogan bitter nötig. Im Land herrscht mehr als 80 Prozent Inflation. Umfragen zufolge kommt er nach 20 Jahren an der Macht auf keine Mehrheit mehr, mit der er eine Regierung bilden könnte. Zwar sind große Städte wie Ankara, Istanbul, Izmir und Antalya unter der Führung der CHP. Wirklich gefährlich konnte das dem Präsidenten bislang nicht werden. Das könnte sich nun ändern.