Risse in der Festung Europa

von Redaktion

VON MANUEL SCHWARZ

Rom – Trotz neuer Zäune und umstrittener Kooperationen zur Abwehr von Migranten haben die illegalen Grenzübertritte in die Europäische Union 2022 deutlich zugenommen. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex registrierte in den ersten elf Monaten dieses Jahres rund 308 000 Versuche, ohne Erlaubnis in die EU zu kommen. Das sei ein Zuwachs um 68 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, der höchste Wert der ersten elf Monate seit dem Jahr 2016.

Europa reagiert auf den Trend und versucht sich abzuschotten. Menschenrechtler werfen dem Kontinent Doppelmoral vor: Während Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine bereitwillig aufgenommen werden, würden andere Hilfsbedürftige an den Außengrenzen abgewiesen, teils mit brutalen Maßnahmen. „Tragischerweise sterben immer noch viel zu viele auf dem Meer bei der Suche nach Schutz“, heißt es in einem Appell des Flüchtlingshilfswerks UNHCR an die EU.

Die immer dramatischeren Folgen des Klimawandels, die weltweiten Auswirkungen des Ukraine-Krieges samt Energie- und Nahrungskrisen, bewaffnete Konflikte, Armut und Verfolgung: Viele Gründe trieben Menschen 2022 dazu, ihre Heimat zu verlassen und nach einem besseren Leben zu suchen.

Manche europäischen Regierungschefs wollen die EU-Außengrenzen noch stärker abriegeln. Italiens ultrarechte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni schlug eine Seeblockade im Mittelmeer und Lager in Nordafrika vor, in die Migranten gebracht werden, um ihre Asylchancen in Europa zu prüfen. Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer fordert die EU zur Finanzierung von Grenzzäunen in Rumänien, Bulgarien und Ungarn auf, um illegale Einwanderung zu unterbinden. „Wir müssen endlich das Tabu Zäune brechen“, sagte er beim EU-Gipfel in Brüssel.

Die Westbalkan-Route ist die aktivste für Flüchtlinge und Migranten in die EU. Laut Frontex gelangten bis November rund 140 000 illegal über den Balkan und Länder des ehemaligen Jugoslawien nach Mitteleuropa. Das waren zweieinhalb Mal mehr als 2021 – und der höchste Wert seit der Flüchtlingskrise 2015.

Auch Griechenland meldet für seine Grenzen, dass die Anzahl der über das östliche Mittelmeer angekommenen Flüchtlinge heftig gestiegen sei. Stand Mitte Dezember kamen rund 17 000 an und damit mehr als 2021, als es gut 9100 waren, wie das UNHCR dokumentierte. Am nördlichen Grenzfluss Evros seien allein im August bei niedrigem Wasserstand gut 36 000 illegale Übertritte verhindert worden, sagte die Regierung. Insgesamt schafften es in diesem Jahr rund 5000 Migranten über den Fluss. Die Griechen bauen den bislang 35 Kilometer langen Grenzzaun um 80 Kilometer aus – am Ende des Projekts wird die Grenze zur Türkei fast vollständig abgeriegelt sein. Im geteilten Zypern stiegen die Zahlen der Grenzübertritte ebenfalls deutlich an. Rund 17 000 Migranten wurden vom Innenministerium bis Ende Oktober registriert – überwiegend aus dem türkischen Nordteil der Insel.

Die mit Abstand meisten Bootsmigranten kamen in Süditalien an. Das Innenministerium in Rom zählte bis Mitte Dezember mehr als 98 000 Menschen, die über die zentrale Mittelmeerroute die italienischen Küsten erreichten – im Vergleichszeitraum 2021 waren es etwas mehr als 63 000. Meloni möchte die Holz- und Schlauchboote, in denen viele Migranten Süditalien ansteuern, schon am Ablegen hindern. Human Rights Watch (HRW) wirft der EU vor, dies schon jetzt zu probieren: Weil Frontex der libyschen Küstenwache die GPS-Daten von Flüchtlingsbooten gebe, und diese die Migranten so abfangen könne, mache sich Europa laut HRW „mitschuldig an dem Missbrauch“ der Leute in libyschen Lagern.

Gut 30 000 Migranten erreichten bis Dezember über das westliche Mittelmeer Spanien. Das Gros der Leute kommt wie in Griechenland und Italien über den Seeweg – rund die Hälfte aller Leute setzt von Westafrika aus auf die Kanarischen Inseln über.

Zwei mächtige Zäune sollen die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko vor Migranten schützen. Mehr als 2900 Leute schafften es laut UNHCR 2022 nach Ceuta und Melilla.

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