„Ich hoffe, ich habe mich entwickelt“

von Redaktion

INTERVIEW Kardinal Marx über Kirchenreformen, den Krieg, Missbrauch und Migration

Weihnachten ist in diesem Jahr ein Fest mit vielen Herausforderungen: weltpolitisch mit dem Krieg in der Ukraine, innenpolitisch mit den Sorgen um die Energieversorgung, kirchenpolitisch mit der Missbrauchs- und Reformdebatte. Gibt es trotzdem Hoffnung? Wir sprachen darüber mit dem Münchner Kardinal Reinhard Marx.

Von friedlicher Weihnacht sind wir mehr entfernt, als wir es uns vor einem Jahr vorstellen konnten. Putins Krieg gegen die Ukraine wird unerbittlich geführt. Welche Hoffnungsbotschaft hat die Kirche?

Dass der Krieg nicht das letzte Wort hat! Ich bin erschüttert darüber, wie lange er dauert und wie brutal er ist. Im Augenblick kann ich nicht erkennen, wie das zu Ende gehen soll. Ich weiß nur: Es wird zu Ende gehen. Unvorstellbar ist, dass der Krieg über Jahre dauert. Aber der Weg wird schwieriger sein, als man es sich zu Beginn vorgestellt hat. Jeder Krieg ist eine Niederlage der Menschheit, hat Papst Johannes Paul II. gesagt.

Können Sie erklären, warum Papst Franziskus eine so klare Erklärung lange nicht abgegeben hat?

Er hat schon deutlich gemacht, dass dieser Krieg ein Übel ist. Er hat auch vom ungerechtfertigten Angriff gesprochen, aber es war etwas zurückhaltend. Ich konnte vor ein paar Tagen mit ihm sprechen. Ich habe den Eindruck, dass die Diplomatie des Heiligen Stuhls doch noch irgendein Türchen offenhalten will, um einen Gesprächsfaden zu suchen, auch zur russischen Orthodoxie. Irgendwann muss es Gespräche geben. Wer soll dann reden? Wer fängt an? Da könnte auch der Vatikan in den Blick kommen.

Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill unterstützt Putins Krieg. Was ist das für eine unheilige Allianz?

Das ist erschreckend! Kyrills Haltung ist ein Missbrauch der Religion. Alle anderen christlichen Kirchen haben das deutlich gesagt. Aber spricht Kyrill für die gesamte russische Orthodoxie? Ich bin überzeugt, dass es dort auch andere Stimmen gibt, die sich jetzt nicht äußern können. Zu ihnen muss man Kontakt halten für die Stunde, die kommen wird. Wir sollten nicht alle Christen der russisch-orthodoxen Kirche verurteilen.

Auch bei uns geraten durch Putins teuflischen Überfall Menschen in die Armut – vor allem Rentner und Alleinerziehende. Was kann Kirche da tun?

Wir haben im Erzbistum ein kleines Zeichen gesetzt. Wir helfen mit zusätzlichen 4,6 Millionen Euro denen, die besonders in Not sind. Das läuft über Hilfsfonds des Erzbistums und die Caritas. Das Geld stammt aus Mehreinnahmen in der Kirchensteuer, die sich aus der im September ausgezahlten Energiepreispauschale ergeben. Es wird Menschen geben, die unverschuldet in ziemlich prekäre Verhältnisse kommen. Da müssen eine Gesellschaft und wir als Kirche zeigen, dass wir solidarisch sind.

Was ist Christenpflicht?

Aufmerksam sein! Auf seine Nachbarschaft, seine Nächsten achten. Wir als Institution halten auch die Augen und Ohren offen: Die Caritas ist vor Ort! Sie sollte hinschauen, dann muss man etwas tun.

Es kommt eine Flüchtlingswelle auf uns zu. Manfred Weber, Chef der Europäischen Volkspartei, sagt, wir müssen Zäune bauen, um uns zu schützen. Was halten Sie davon?

Zäune sind nicht die erste Antwort. Wir haben das 2015/16 ja erlebt, auch wenn wir heute eine ganz andere Situation haben. Wir haben eine Million ukrainische Geflüchtete in Deutschland. Das ist bislang relativ problemlos gegangen, es sind sehr viele privat untergekommen. Jetzt suchen sie eine Bleibe auf Dauer – und wollen nicht in Turnhallen untergebracht werden, was ich verstehe. Das ist ein großer Druck, weil auch andere Flüchtlinge aus den Krisengebieten der Mittelmeeranrainer, aus Syrien, aus Afghanistan, aber auch aus Russland dazukommen.

Was muss passieren?

Ein geregeltes Verfahren ist weiterhin notwendig. Jeder, der zu uns kommt, hat ein Recht auf die Prüfung, ob er berechtigt ist, einen Asylantrag zu stellen. Und wenn er ihn stellen kann, dann bleibt er hier. Wir sind ein Rechtsstaat, es gelten Gesetze. Die Situation an der Grenze etwa in Griechenland können wir nicht hinnehmen. Das ist unwürdig. Da können wir nicht sagen: Das geht uns nichts an, da machen wir einen Zaun und kümmern uns nicht weiter. Ich kenne Manfred Weber, er hat sich doch etwas differenzierter geäußert. Er spricht sich wohl aus für Verstärkung der Kontrollen an den Außengrenzen und funktionierende Solidarmechanismen. Wichtig ist immer, dass es Verfahren unter Wahrung der Menschenrechte und Menschenwürde gibt.

Trotzdem haben Sie – anders als die evangelische Kirche – keine Flüchtlingsschiffe gechartert.

Aber ich als Erzbischof und wir als Erzbistum haben die privaten Initiativen der Seenotrettung finanziell unterstützt. Denn es kann nicht sein, dass wir Menschen, die sich – wir wissen nicht aus welchen Gründen – unter Lebensgefahr auf den Weg machen, im Mittelmeer ertrinken lassen. Wir müssen sie wenigstens an Land kommen lassen und prüfen: Was ist Dein Anliegen? Warum bist Du geflohen? Unter diesem Standard geht es nicht.

2022 ist auch für die Kirche ein schweres Jahr. Jedes vierte Mitglied denkt an Austritt, die Bischöfe sind über den „Synodalen Weg“ heillos zerstritten …

Heillos vielleicht nicht….

Wie steht es um die Kirche in Deutschland?

Wie steht es um die Religion insgesamt? Wir müssen uns fragen: Welche Rolle sollen Kirchen in einer offenen, fragmentierten Gesellschaft spielen? Jedenfalls nicht wie in der Vergangenheit, wo wir in geschlossenen Milieus gelebt haben, wo das Katholisch- oder Evangelisch-Sein zur unverrückbaren Identität einer Familie gehört hat. Viele meinen: Wir werden einfach moderner, und dann kommen die Leute wieder. So einfach wird das nicht sein. Es geht um einen Prozess, dem man sich als Bischof stellen muss: den Kern des Evangeliums wieder zum Strahlen bringen. Deutlich machen, welcher Gewinn es geistlich, menschlich, spirituell ist, wenn ich Christ bin.

Das stellen viele infrage…

…und alle diskutieren jede Woche über Kirchenaustritte und Untergangsszenarien, ich weiß. Mir ist wichtig, dass wir nach vorne schauen und daran arbeiten, dass für die junge Generation deutlich wird: Dies ist eine Gemeinschaft, die Zukunft hat.

Was ist zu tun?

Die Mitgestaltung aller muss intensiver werden. Aber es wird nicht im schlichten Sinne gehen: Passen wir uns einmal an, gehen wir einfach jedem Trend hinterher. Dann haben wir eine Kirche, in der jeder seinen kleinen „Schrebergarten“ aufmacht. Wir wollen eine Gemeinschaft sein, in der man sonntags zusammenkommt und alle sagen: Das hat uns Kraft gegeben. Eben eine Gemeinschaft, die viele zusammenführt.

Sie waren so verzweifelt, dass Sie 2021 erklärt haben, die Kirche habe einen „toten Punkt“ erreicht. Ist dieser tote Punkt überwunden?

Ich hatte im Zusammenhang mit meinem Rücktrittsangebot diesen Begriff des Jesuiten Alfred Delp im Blick. Ein toter Punkt ist für mich nicht das Ende. Sondern, dass wir an bestimmten Punkten so nicht weitermachen können. Wir müssen uns neu aufstellen. Das ist nicht mit einzelnen Maßnahmen gemacht. Wir können uns auch nicht nur auf die gewachsenen Traditionen verlassen. Die Tradition kann – gerade in Bayern – zwar eine große Hilfe sein. Aber wenn sie zur leeren Hülle wird, spürt man, dass das allein den nächsten Generationen nicht reicht. Es geht auch nicht um zivilreligiöse Rituale und Moral. Jesus hat verkündet, dass das Reich Gottes anbricht, dass der Himmel die Erde berühren kann. Jetzt! Und nicht erst, wenn wir tot sind. Für die Zukunft muss man sich auf den Weg machen. Darauf habe ich Lust. Ich denke aber, das geht über meine Lebenszeit hinaus. Es geht um die zentralen Punkte, nicht nur um Zölibat oder Frauendiakonat. Diese Themen sind wichtig, lösen aber nicht den Kern des Problems.

Sie sind einer der Väter des „Synodalen Wegs“, der Reformen in der Kirche erreichen will. Könnte er in der Sackgasse enden?

Nein, das glaube ich nicht. Er wird seine Fortsetzung haben im Synodalen Ausschuss. Wir werden nachher anders miteinander Kirche sein. Ich sehe keinen Punkt, von dem an wir alle Probleme gelöst haben. Aber wir müssen alle mitgestalten lassen. Die Laien stärker beteiligen. Das Bischofsamt wird es weiter geben, das Priesteramt…

Vielleicht Diakoninnen?

Ja, mag sein. Wir haben ein Problem, das die Deutschen nicht immer ganz sehen: Die Kirche ist eine Weltkirche. Wir stehen vor der Herausforderung, wie kriegt man Einheit und Vielfalt zusammen. Da gibt es einige Fragen wie die Rolle der Frau und das Priesteramt – das können wir nicht nur in Deutschland klären. Aber wir brauchen mehr Vielfalt und Eigenständigkeit der Ortskirchen.

Trotz der ablehnenden Stimmung im Vatikan?

Es gibt nicht nur die eine Stimmung im Vatikan. Das ist kein monolithischer Block. Der Papst ist offen dafür, dass der Weg weitergeht. Er muss aber das Ganze im Blick behalten. Als Bischöfe wollen wir uns dafür einsetzen, dass der Anschluss an den gesamtkirchlichen Weg weiter möglich ist.

Sie selbst galten ja mal als Traditionalist…

Na, ja…

…und sind zum Reformer geworden.

Ich hoffe, ich habe mich entwickelt. Im kirchlichen Bereich war ich vorsichtig konservativ. Besonders in der Liturgie. Ich habe das nie gemocht, wenn da rumexperimentiert wird. Aber ich habe Meinungen überprüft und geändert in den vergangenen 40 Jahren. Als junger Kaplan war ich noch dagegen, dass Mädchen Ministrantinnen werden können. Ich dachte, man kann bei den Jungen sehen, ob einer Priester werden könnte – und die Mädchen bringen das durcheinander. Das sehe ich längst nicht mehr so. Meine Schwester wirft mir diese alte Auffassung heute noch vor. Sie selbst konnte damals nicht Ministrantin werden. Ich gebe ihr heute Recht!

Kommen wir zum Missbrauchsskandal. Sie haben 2010 von einem „annus horribilis“, einem Schreckensjahr, gesprochen. Was waren die vergangenen zwölf Jahre?

Intensive Arbeit! Deswegen finde ich nicht richtig, wenn man sagt, die Kirche hat nichts getan. Am Anfang hat es zu lange gedauert, bis wir die Dimension begriffen. Das gesellschaftliche Diskussionsfeld ist anders als vor 20 Jahren: Denken Sie an #MeToo. Gott sei Dank ist man aufmerksam geworden! Die katholische Kirche hat das Thema auch in mehreren Gutachten prüfen und bewerten lassen. Jetzt können wir sagen: Es gibt keine Institution, die in Prävention und Aufarbeitung so weit ist wie wir!

Sie liefern sich einen Schlagabtausch mit der Staatsregierung, die Ihnen vorwirft, die Kirche müsse mehr tun. Sie haben dem widersprochen. Justizminister Eisenreich weist nun darauf hin, dass das Münchner Erzbistum vorbildlich bei der Aufklärung sei. Aber von den sieben bayerischen Diözesen fünf kein Gutachten in Auftrag gegeben haben.

Wir sind mit dem Thema nicht am Ende. Aber wenn man kritisiert, muss man auch sagen, was man meint. Wenn es in Ihrer Zeitung eine Überschrift gibt „Bayern rügt die Kirchen“, da schlucke ich schon! Da muss ich sagen: So pauschal geht das nicht! Die bayerischen Bischöfe haben mit der Staatsregierung im Mai lange gesprochen. Die Aufarbeitung ist mit dem Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung vereinbart worden. Zu sagen, der Staat ist in der Aufarbeitung nicht drin, ist nicht richtig. Der Staat hat die Kriterien mit vorgegeben. Es gibt eine Vereinbarung.

Könnte nicht eine Wahrheitskommission, wie sie in Irland eingesetzt wurde, die Situation befrieden?

Eine völlig unabhängige Aufarbeitungskommission haben wir ja, besetzt auch mit Mitgliedern, die der Freistaat entsandt hat. Wenn der bayerische Staat noch einen unabhängigen Beauftragten oder eine Ombudsstelle einsetzen möchte, soll er das tun. Aber dann für alle Bereiche. Ich habe nichts dagegen, dass der Staat noch mehr tut. Dass in der Öffentlichkeit rüberkommt, wir hätten zu wenig getan – für unser Bistum muss ich sagen: Das stimmt so nicht! Aber sicher kann auch immer noch weiter gearbeitet werden an Vereinbarungen. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten.

Würden Sie sich wünschen, dass alle bayerischen Bistümer Gutachten in Auftrag geben?

Wir haben uns dazu verpflichtet als Bischöfe, Verantwortlichkeiten zu klären und systemische Ursachen in den Blick zu nehmen. Jetzt haben alle Bistümer unabhängige Aufarbeitungskommissionen gegründet. Die haben jetzt die Federführung in der Aufarbeitung. Wir als Bischöfe haben das bewusst an diese Kommissionen gegeben. Was intensiviert werden musste, war der Kontakt zu den Betroffenen. Seit 2010 habe ich Kontakt mit Betroffenen. Allerdings auf Anfrage. Da muss ich zugeben: Das hätte man intensiver machen müssen. Doch in den letzten Jahren habe ich viele Gespräche mit Betroffenen geführt. Da haben wir Defizite aufgearbeitet und sind nach wie vor dabei. Wir haben auch eigens eine Seelsorgestelle für Betroffene eingerichtet.

Was halten Sie vom Protest der „Letzten Generation“?

Grundsätzlich kann ich das Anliegen der jungen Leute verstehen. Dass für die Erhaltung der Schöpfung mehr getan werden muss, ist klar. Protest darf fantasievoll sein, aber man sollte sich an Gesetze halten.

Viele Menschen haben Angst vor 2023. Gehen Sie hoffnungsvoll ins Jahr?

Ich gehe immer hoffnungsvoll weiter. Ich kann verstehen, dass Sorgen da sind, aber als gläubige Christen wissen wir: Wir sind geborgen in Gottes Hand. Wir haben unser Leben nicht gemacht. Jeder Tag ist ein Geschenk, eine Möglichkeit, Gutes zu tun, fröhlich zu sein und voller Hoffnung. Diese Gewissheit kann in Zeiten von Not oder Krankheit davor bewahren, völlig in die Depression abzurutschen. Wenn Gott Mensch geworden ist, dann ist es gut, ein Mensch zu sein. Darüber darf ich mich jeden Tag freuen.

Interview: Claudia Möllers und Georg Anastasiadis

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