Auf Lambsdorffs Spuren

von Redaktion

Mit seinem Papier zur Wirtschaftspolitik verärgert FDP-Chef Lindner die Koalitionspartner – Geschichte wiederholt sich

München – Das Beben beginnt mit höflichen Worten. Am Abend des 9. September 1982 wird im Bonner Kanzleramt ein Umschlag abgegeben, Absender ist Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff. Im Begleitschreiben wendet der FDP-Politiker sich an den „sehr geehrten“ Helmut Schmidt und verweist auf dessen Auftrag, Vorstellungen zu notwendigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu Papier zu bringen. Das Ergebnis „darf ich Ihnen in der Anlage übersenden“. Der Minister schließt „mit freundlichen Grüßen“. Acht Tage später ist die Koalition aus SPD und FDP am Ende.

Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es immer, aber manchmal erinnern die Ereignisse doch sehr an frühere Zeiten. Aktuell wird über das Positionspapier Christian Lindners debattiert, in dem der Finanzminister und FDP-Chef eine Zeitenwende auch in der Wirtschaftspolitik fordert, zum Missfallen der Koalitionspartner. Dass er nicht der erste Liberale ist, der ein Bündnis in Aufruhr versetzt, ist eine pikante Fußnote.

Lambsdorffs Papier trägt den länglichen Titel „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“. Es beruht auf der Einsicht, dass die schwierige Wirtschaftslage –Ölkrise, Arbeitslosigkeit, hohe Staatsverschuldung, verkümmerndes Wirtschaftswachstum – ein energisches Eingreifen erfordert. In diesem Punkt stimmen beide Partner überein. Aber bald enden die Gemeinsamkeiten.

Lambsdorffs Vorschläge sorgen bei den Sozialdemokraten für einen Aufschrei. Mal ist von „Scheidungspapier“ die Rede, mal von „Gruselkatalog“ oder „sozialpolitischem Amoklauf“. Der FDP-Minister fordert eine strenge Haushaltskonsolidierung und regt eine „relative Verbilligung des Faktors Arbeit“ an. So bringt er eine Kürzung des Arbeitslosengeldes ins Gespräch und die Einführung von Karenztagen bei der Auszahlung, hinzu kommen eine Senkung des Wohngeldes und die Umwandlung der Bafög-Zahlungen in Volldarlehen. Im Gegenzug regt er an, Gewerbe- und Vermögenssteuer zu reduzieren und Anreize für Investitionen zu schaffen. Neu sind die Positionen nicht. Das Papier ist eher eine Zusammenfassung, ein Anstoß für weitere Debatten. Auf viele Sozialdemokraten wirkt es dennoch als Affront.

Damals und heute, das könne man nicht vergleichen, sagt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. 1982 sei die Koalition nach 13 gemeinsamen Jahren „in der Endphase“ gewesen, die Herausforderungen ganz andere als heute. Viele von Lambsdorffs Positionen, glaubt die frühere Bundesjustizministerin, „entsprachen auch Helmut Schmidts Vorstellungen von Wirtschaftspolitik“. Doch der Kanzler hatte mit seiner eigenen Partei, die nach links driftete, genug zu kämpfen, etwa beim Nato-Doppelbeschluss. Leutheusser-Schnarrenberger glaubt deshalb: „Er hat das Papier auch benutzt, um die SPD zusammenzuhalten.“ Dafür platzte die Regierung. Drei Wochen nach Veröffentlichung des Papiers übernahm eine Koalition aus Union und FDP die Geschäfte.

Lambsdorffs Ideen blieben aktuell, sowohl unter Helmut Kohl als auch später. Zentrale Gedanken zur Reform des Arbeitsmarktes, vor allem eine Leistungskürzung für Arbeitslose, fanden sich in der „Agenda 2010“ wieder – unter dem SPD-Kanzler Gerhard Schröder. Für Leutheusser-Schnarrenberger „ein Witz der Geschichte“. MARC BEYER

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