Moskau – Zu Beginn des neuen Jahres tauchen viele Russen über die arbeitsfreien Feiertage ab in eine Ruhephase – oft mit Kaviar, Sekt, Wodka und Gesprächen am Küchentisch, auch über den Krieg. Dabei geht es nicht zuletzt um den Oberbefehlshaber, Präsident Wladimir Putin. Der 70-Jährige blies zwar in der Neujahrsbotschaft zur Fortsetzung des Krieges in der Ukraine. In Umfragen sind aber mehr Russen (50 Prozent) für Friedensverhandlungen als für weitere Kämpfe (40 Prozent).
Das in Russland als „ausländischer Agent“ gebrandmarkte Meinungsforschungsinstitut Lewada hat in einer Studie im Dezember ermittelt, dass 21 Prozent der Befragten die Handlungen der Kreml-Armee in der Ukraine nicht unterstützen. Anhaltend groß ist aber der Anteil der Unterstützer mit 71 Prozent. Soziologen weisen einordnend darauf hin, dass es wegen der Einschüchterung und Manipulation schwer ist, aufrichtige Antworten zu erhalten.
Wer in Russland lebt und im privaten Umfeld Gespräche führt, findet kaum Befürworter des Kriegs. Angst, Verunsicherung, auch Hass auf den Kreml sind allgegenwärtig. Der gebürtige Moskauer Sergej hat im Oktober gekündigt: „Sollen sie ihren Mist alleine machen“, sagt der Mittfünfziger, der lange bei einer kremlnahen Organisation arbeitete. Das Geld und die Möglichkeiten des Jobs beruhigten lange sein Gewissen, bis zum Ausbruch des Krieges.
Angesichts zahlreicher Niederlagen im Krieg nehmen viele Russen Putin nicht mehr als starken Anführer wahr. Der Verzicht auf die Jahrespressekonferenz, auf die TV-Audienz mit dem Volk und die Rede zur Lage der Nation lassen darauf schließen, dass er keine Antworten auf drängende Fragen hat. Dabei hilft ihm im Moment aus Sicht von Analysten noch, dass der vorhergesagte Zusammenbruch der Wirtschaft trotz der Sanktionen ausgeblieben ist.
Gleichwohl attestieren Experten Putin Macht- und Kontrollverlust. Die Elite muss zusehen, wie radikale Kräfte wie der gefürchtete Chef der Söldner-Gruppe „Wagner“, Jewgeni Prigoschin, auf das politische Feld vordringen. Putin droht Gefahr von rechten Nationalisten, auf die er sich lange gestützt hat. Einer ihrer Wortführer ist der ehemalige Geheimdienstoffizier Igor Girkin, der unter dem Pseudonym Igor Strelkow 2014 den Aufstand der Separatisten im Osten der Ukraine anführte.
Zwar unterstützen Kräfte wie Girkin den imperialistischen Krieg zur Rückgewinnung „alter Größe“. Doch sind sie von der Kriegsführung und den Niederlagen so enttäuscht, dass sie Verrat an oberster Stelle wittern. Girkin arbeitete sich öffentlich an Verteidigungsminister Sergej Schoigu ab. Als der Kreml Anfang der Woche zaudernd erklärte, dass 63 russische Soldaten bei einem ukrainischen Angriff gestorben seien, sprach Girkin von „hunderten“ Getöteten und Verletzten. Viele verstehen das längst als Kritik an Putin selbst.
Im Raum steht für viele Russen in der Beamtenschaft und im öffentlichen Dienst aber auch die Frage, inwieweit sie sich selber schuldig machen – als Mitläufer oder Unterstützer. Laut Lewada-Institut sehen 34 Prozent der Befragten eine eigene moralische Verantwortung für den Tod von Zivilisten und die Zerstörungen in der Ukraine. Die Mehrheit denkt aber nicht so.
Der in London im Exil lebende Kremlkritiker Michail Chodorkowski rief seine Landsleute auf, nicht weiter zuzusehen. „An der Seite stehen – das bedeutet Mitmachen“, sagte er, lobte aber zugleich, dass viele Russen ihrem Unmut Luft machen. Der Putin-Gegner verwies auf Statistiken, nach denen 2022 mehr als 20 000 Menschen aus politischen Gründen festgenommen wurden und bis zu einer Million Menschen das Land verlassen hätten.
In der Politik aber überwiegt eine militaristische Stimmung. Noch ist die Hoffnung auf einen Sieg bei vielen Mächtigen in Moskau groß. Russland habe sich mit dem Krieg völlig übernommen, weil es keine Ressourcen habe, den Westen herauszufordern, bilanziert die Politologin Tatjana Stanowaja. „Das ist das Endstadium, ein Mechanismus der Selbstzerstörung jenes postsowjetischen Russlands, wie wir es kennen.“ Für die Machthaber gebe es keinen Ausweg mehr. Die Expertin sieht die Gefahr, dass „Radikale mit revolutionären Einstellungen“ stärker werden. Der „Schrecken der Selbstzerstörung“ berge aber auch die Hoffnung, dass etwas Neues entstehen könne.