Charkiw – Außenministerin Annalena Baerbock hat als erstes deutsches Kabinettsmitglied seit Beginn des russischen Angriffskriegs die Ostukraine besucht. Die Grünen-Politikerin machte sich am Dienstag in der lange umkämpften Stadt Charkiw ein Bild von der Situation und kündigte weitere militärische und humanitäre Unterstützung an. „Dazu zählen auch weitere Waffenlieferungen, die die Ukraine braucht, um ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger zu befreien, die noch unter dem Terror russischer Besatzung leiden“, sagte Baerbock.
Die Ukraine fordert vor allem deutsche Leopard-Kampfpanzer. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba drängte bei dem Treffen gestern zur Eile. „Je länger es bis zu einer solchen Entscheidung dauert, desto mehr Opfer wird es geben“, sagte er – und fügte hinzu: „Ich habe keine Zweifel daran, dass die Ukraine deutsche Leopard-Panzer erhalten wird, denn in ihrem tiefsten Inneren weiß auch die Bundesregierung, dass diese Notwendigkeit besteht.“
Doch Baerbock wollte eine Lieferung deutscher Leopard-Panzer noch nicht zusagen. Sie verwies auf anhaltende Abstimmungen im Kreis der Verbündeten. Die Ministerin äußerte aber Verständnis für den Wunsch der Ukraine, stärker gegen die russischen Angreifer in die Offensive zu kommen.
Doch ganz mit leeren Händen kam die Ministerin trotzdem nicht. Nach den bereits zugesagten Marder-Panzern erhalte die Ukraine ein „weiteres Hilfspaket“. Enthalten seien 20 Millionen Euro für die Minenräumung und weitere 20 Millionen Euro für Bodenstationen des Satelliten-Netzwerks Starlink, das die Ukraine mit Internet versorgt. Zudem kündigte die Außenministerin weitere Generatoren für die ukrainische Energie-Infrastruktur an.
Der Besuch in Charkiw war eine große Überraschung – da er aus Sicherheitsgründen geheim gehalten wurde. Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen dauerte die Visite nur wenige Stunden. Bei ihrem Rundgang durch die ostukrainische Großstadt wurde Baerbock von Kuleba und dem ukrainischen Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, begleitet.
Charkiw war gleich am ersten Tag des russischen Überfalls unter heftigen Beschuss gekommen. Es folgten schwere Angriffe und militärische Belagerung. Doch die ukrainische Armee hielt dem Druck stand und drängte die russische Armee weit zurück. Die Großstadt wurde so zum Symbol für die Selbstbehauptung des Landes. Die Stadt sei ein „Sinnbild für den absoluten Irrsinn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine“, sagte Baerbock. „Heute sieht man praktisch an jeder Straßenecke tiefe Spuren der russischen Zerstörungswut.“ Aktuell verläuft die Kampffront in etwa 130 Kilometer Entfernung von Charkiw. Fast täglich schlagen Raketen aus Russland in der Region ein. So auch wenige Stunden nach Baerbocks Besuch.
Vergangene Woche hatte nicht nur Deutschland Marder-Panzer versprochen, sondern die USA auch 50 Bradley-Schützenpanzer. Wie das Pentagon gestern Abend mitteilte, sollen dafür ukrainische Soldaten auf dem Truppenübungsplatz im bayerischen Grafenwöhr ausgebildet werden. PETER WÜTHERICH