Frankreichs Kampf um den frühen Ruhestand

von Redaktion

Zwei Drittel der Bürger sind gegen Macrons Plan, das Eintrittsalter von 62 auf 64 Jahre anzuheben

München/Paris – Frankreich nimmt einen neuen Anlauf für eine Rentenreform, eines der wichtigsten Wahlkampfversprechen von Präsident Emmanuel Macron. Einen ersten Versuch hatte die Regierung nach Streiks, Massenprotesten und der Corona-Krise 2021 aufgeschoben.

Denn den Franzosen ist ihr Renteneintritt mit 62 heilig. Macrons Vorstoß folgten unisono Proteste von allen Seiten, vor allem den Gewerkschaften. Während Macron auf künftige Lücken in den Rentenkassen verweist, werfen Kritiker ihm vor, mit den Überschüssen die Schulden aus der Corona-Pandemie bezahlen zu wollen.

Das französische Rentensystem ist deutlich komplizierter aufgebaut als das deutsche, wie Julie Tréguier vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erklärt: „In Frankreich gibt es vier Basis-Systeme, darunter das Régime general, das alle Angestellten und Selbstständigen abdeckt und beitragsfinanziert ist.“ Zusätzlich gebe es 16 ergänzende Kassen, die durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanziert werden. Daneben existieren elf Spezialkassen, die unter anderem den öffentlichen Dienst abdecken, und acht weitere, die beispielsweise für den Parlamentsdienst zuständig sind. Mit den drei Kassen, die Zusatzversorgungen etwa für Ärzte sichern, gibt es in Frankreich insgesamt 42 Rentensysteme. Viele Franzosen befürchten durch Macrons Reformvorhaben eine Vereinheitlichung – und sinkende Ansprüche.

Anders als Deutschland stehen die Franzosen rententechnisch stabil da, findet Tréguier: „Das französische Rentensystem wird – Stand 2018 – zu bis zu 80 Prozent aus den Beiträgen der Beitragszahler und der Arbeitgeber finanziert. Elf Prozent stammen aus speziellen Steuern, die zur Finanzierung der Renten erhoben werden.“ Der Rest werde größtenteils aus Steuergeldern und Beiträgen von anderen Sozialversicherungen bezahlt.

In Deutschland werden derzeit gut 30 Prozent der Rentenbezüge mit Geldern aus dem laufenden Staatshaushalt gedeckt – trotz höheren Eintrittsalters (aktuell fast 66 Jahre). Tréguier verweist auf die Statistik: „In Frankreich gibt es eine andere Demografie, hier stehen den Rentnern mehr Arbeiter gegenüber. So finanzieren mehr Beiträge die aktuellen Renten.“

Es bleibt die heiß diskutierte Frage, ob eine Erhöhung des Rentenalters auf 64 nötig ist – oder gleich 65, wie Macron ursprünglich vorschlug. „Laut dem Rentenorientierungsrat wird Frankreich in einigen Jahren ein Defizit in der Rentenkasse haben“, sagt Tréguier. „Das bringt das Rentensystem aber nicht in Gefahr, denn das Defizit ist klein und über Jahre stabil.“

Auch die Wissenschaftlerin sieht Handlungsbedarf, warnt aber: „Die Erhöhung des Rentenalters könnte Ungleichheiten fördern.“ Denn, so ein auch in Frankreich oft diskutierter Kritikpunkt: Menschen mit körperlich anspruchsvollen Jobs, die aus gesundheitlichen Gründen nicht länger arbeiten können, müssen dann Abschläge hinnehmen.

Tréguier findet, „alternativ könnte man die Beitragssätze anheben oder Anreize schaffen, die Leute länger in Arbeit zu halten“. Denn in Frankreich sei die Beschäftigungsrate unter Senioren geringer als in anderen Ländern. „Weil ältere Menschen öfter entlassen werden.“

Der Gesetzesvorschlag soll nun am 23. Januar im Kabinett eingebracht und ab dem 6. Februar in der Nationalversammlung debattiert werden. Anschließend geht er an den Senat, wo die Konservativen die Mehrheit haben. Die Regierung will das Gesetz bis zum Sommer durchbringen. Falls sich keine Mehrheit abzeichnet, könnte Premierministerin Elisabeth Borne den Verfassungsparagrafen 49.3 anwenden, der das Verabschieden eines Gesetzes ohne Abstimmung ermöglicht – falls die Regierung einen anschließenden Misstrauensantrag übersteht.

MATTHIAS SCHNEIDER

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